„Die neuen Gegebenheiten verlangen anstelle einer Politik des ‚bewussten Sich-Heraushaltens‘ eine Politik des solidarischen Mitwirkens“, sicherheitspolitisches Trittbrettfahren widerspreche dem Gerechtigkeitsgebot. Sätze wie diese finden sich im Expertenentwurf der „Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin 2001“, die Österreich nicht mehr als neutral, sondern als „allianzfrei“ ansah. Dem Konzept der dauernden Neutralität seien „durch das Ende des Kalten Krieges […] sowie durch die Vertiefung der supranationalen Strukturen der EU die Grundlagen entzogen“.
Treibende Kraft hinter diesem Papier war die damalige schwarz-blaue Regierung – mittlerweile haben sich die Ansichten etwas geändert: „Unsere Neutralität schützt uns auch in der Union vor militärischer Einflussnahme durch die NATO-Mitgliedsländer rund um Österreich“, meinte etwa FPÖ-Wehrsprecher Volker Reifenberger. Als die Bundesregierung am Dienstag eine neue Sicherheitsstrategie ankündigte, versicherte man sofort: Die Neutralität werde „auch in Zukunft wesentlicher Bestandteil der Sicherheitsstrategie bleiben“.
2001 hieß es noch: "Im internationalen Vergleich entspricht der völkerrechtliche Status Österreichs damit nicht dem eines neutralen, sondern eines allianzfreien Staates."
Paradigmenwechsel
Während der Begriff „Strategie“ mittlerweile die „Doktrin“ abgelöst hat, haben beide eines gemein: Sie sind nicht bindende Richtlinien für die Bundesregierung – und werden in der politischen Praxis so verstanden. Der Begriff „allianzfrei“ hielt in den politischen Jargon nicht Einzug. Trotz der aktuellen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2013 bestimmen derzeit die Folgen des früheren Ost-West-Konflikts die sicherheitspolitische Agenda – auch wenn sie das laut jenem Dokument nicht mehr tun.
Eine neue Strategie soll also bis zum Ende der Legislaturperiode her – und von möglichst allen Parteien im Nationalrat erarbeitet beziehungsweise abgesegnet werden. Vereinfacht gesagt besteht eine Sicherheitsstrategie aus einer Analyse der geopolitischen Situation sowie der potenziellen Auswirkungen auf Österreich. Hierzu könnte die Bundesregierung auf die alljährliche Sicherheitspolitische Jahresvorschau des Verteidigungsministeriums zurückgreifen, die lange vor Corona und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine vor beidem warnte.
Notwendigkeit
Ist die Analyse abgeschlossen, müssen die richtigen Schlüsse für Österreich gezogen werden – wie etwa jener der Nachrüstung des Bundesheeres oder der Anschaffung strategischer Gasreserven. Auch das war ohne überarbeitete Sicherheitsstrategie möglich – dennoch tut es nach mehr als zehn Jahren Not, einen neuen Leitfaden für die österreichische Sicherheitspolitik zu erstellen.
Grundlage
Guten Stoff als Vorlage bietet hier die „Umfassende Landesverteidigung“ – ein in der Verfassung verankertes Konzept, das die Bereiche der militärischen, wirtschaftlichen, zivilen und geistigen Landesverteidigung beinhaltet und diese miteinander verbinden soll. Kernpunkte sind etwa die Bevorratung von Lebensmitteln und Energie, das Wissen um die Notwendigkeit der Verteidigung einer liberalen und demokratischen Republik Österreich oder der Zivilschutz an sich.
1975 ins Leben gerufen, verlor die „ULV“ mit dem Ende des Kalten Krieges und der fortschreitenden Globalisierung immer stärker an Bedeutung, gewinnt aber angesichts der Lieferkettenprobleme, des Medikamentenmangels oder der Energiekrise wieder an Gewicht.
Sie findet durchaus in der aktuell geltenden Fassung Erwähnung: „Umfassende Sicherheit bedeutet, dass äußere und innere sowie zivile und militärische Sicherheitsaspekte aufs Engste verknüpft sind“, steht dort, dicht gefolgt von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens im Rahmen der EU.
Diese verfügt mit dem „Strategischen Kompass“ de facto über eine eigene Sicherheitsstrategie, die eine stärkere strategische Eigenständigkeit in der Geopolitik zum Ziel hat. Ein Blick auf die aktuelle Situation zeigt, dass vor allem die NATO der Sicherheitsgarant Europas ist. Wenn in etwa zehn Jahren eine neue Sicherheitsstrategie kommt, darf man gespannt sein, wie und ob sich die Lage zur jetzt geplanten Strategie unterscheidet – und wie welche Partei zur Neutralität steht.
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