Neues Rüstzeug für eine stärkere EU

„Die EU ist nicht gut genug aufgestellt“: Sebastian Kurz plädierte auch in Sibiu für eine Neuordnung
Die EU-Granden beschwören ihre Einigkeit – erstmals ohne Briten. Kurz pocht auf neuen EU-Vertrag

Ein Großereignis wie dieses hat Sibiu (deutsch: Hermannstadt) noch nie gesehen: Im Minutentakt treffen Europas Staats- und Regierungschefs auf dem prächtigen großen Platz der schmucken siebenbürgischen Stadt ein. Freundlicher Applaus der zahlreich herbeigeströmten Zuschauer brandet auf. Europafahnen wehen von buchstäblich jedem Laternenmast. Fast ein wenig ungläubig verfolgen die Bewohner die „europäische Welle“, die ihre 160.000-Einwohnerstadt am Donnerstag heimgesucht hat.

Das multikulturelle Sibiu, in dem siebenbürgische Sachsen, Ungarn und Rumänen jahrhundertelang friedlich zusammengelebt haben; die Stadt, die vor 30 Jahren noch weit hinter dem Eisernen Vorhang lag – sie ist ein idealer Ort, um die Zukunft Europas ins Auge zufassen.

Hinter den barocken Mauern des Bruckenthal-Palais und des daneben liegenden Rathauses von Sibiu berieten gestern die EU-Granden über die Marschrichtung, die die EU in den kommenden fünf Jahren nehmen soll. Und auch der Zeitpunkt sei ideal, um über die kommenden Reformaufgaben für die EU zu diskutieren, meint Bundeskanzler Sebastian Kurz: Ende Oktober tritt die EU-Kommission unter der Führung von Präsident Jean-Claude Juncker ab. Der kommenden will Kurz daher gleich vorab ein paar Forderungen mitgeben.

„Neues Fundament“

„Die EU ist nicht gut genug aufgestellt“, konstatiert der Kanzler. „Es gibt keinen Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen und auf dem Status quo zu beharren.“ Seinen europäischen Gesprächspartnern schlug Kurz in Sibiu daher vor, die EU „auf ein neues Fundament“ zu stellen.“

Wie? In Form eines neuen EU-Vertrages. Dieser würde die derzeitigen Entscheidungsschwächen beseitigen und der EU das Rüstzeug für die künftigen Herausforderungen mitgeben. Eine von Kurz’ vordringlichsten Forderungen dabei: Staaten, die EU Regeln brechen, indem sie Flüchtlinge durchwinken oder den Rechtsstaat biegen, sollen künftig leichter sanktioniert werden können.

Die Resonanz auf das Drängen des Kanzlers fiel durchwachsen aus: „Wir müssen innovativ sein, wir müssen stark sein, wir müssen geeint sein“, sagte Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel. Ihr Appell an die Einigkeit der EU traf den Grundton des Gipfels in Sibiu. „Zusammen durch dick und dünn“, hieß es in der geradezu pathetischen Abschlusserklärung des Gipfeltreffens. Nur gemeinsam und einig, so lautete die zentrale Botschaft des Gipfels, hat die EU das nötige Rüstzeug, sich in der Zukunft zu behaupten. Die „Erklärung von Sibiu“ bekräftigt zudem die EU-Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit.

Diese Beschwörung der Geschlossenheit in der EU kommt nicht von ungefähr: Zum ersten Mal tagten die EU-Granden zu Zukunftsfragen ohne die Briten. Denn auch, wenn der Brexit noch längst nicht vollzogen ist, hält sich die britische Regierung von allen künftigen Planungen der EU bereits heraus.

Pandoras Box

Die künftige, gemeinsame Marschrichtung der verbliebenen 27 EU-Mitgliedsstaaten fand denn beim Gipfel auch mehr Aufmerksamkeit als die von Kanzler Kurz angeregten Reformen. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker konterte sogar gleich: „Ich habe nichts gegen Vertragsänderungen. Aber wir sollten erst das Potenzial der existierenden Verträge nützen.“

Neues Rüstzeug für eine stärkere EU

Juncker: "Sollten erst das Potenzial der existierenden Verträge nützen."

Die Sorge vieler europäischer Politiker ist: Die EU-Verträge aufzuschnüren, das sei wie Pandoras Box zu öffnen – dann würden alle Staaten und Regierungen mit Sonderwünschen kommen und ein fertiges Paket, das einstimmig eingenommen würde, wäre nie mehr zu schnüren.

Eine konkrete Empfehlungsliste für Aufgaben, die die Europäische Union in den kommenden Jahren zu schultern hat, wollen die EU-Staats- und Regierungschefs erst bei ihrem Gipfel Ende Juni verabschieden.

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