Bildung: Wer viel hat, dem wird noch gegeben

Leistung zählt im österreichischen Bildungssystem wenig
Die Autoren des Nationalen Bildungsberichts empfehlen eine individuelle Förderung statt homogener Gruppen in Österreichs Schulen.

Der Nationale Bildungsbericht 2015 wurde veröffentlicht. Die Ergebnisse auf einen Blick (siehe Detailergebnisse unten):

  • Der Übertritt von der Volksschule zur AHS-Unterstufe hängt unter anderem mit dem Bildungsabschluss der Eltern zusammen. Nur 30 Prozent der sozialen Ungleichheit sind durch Leistungsunterschiede zu erklären.
  • In den Volksschulen spricht mehr als ein Viertel der Kinder eine andere Alltagssprache als Deutsch.
  • Für 6,4 Prozent eines Jahrgangs war 2013/14 nach Absolvierung der Schulpflicht Schluss mit der Ausbildung,
  • Bundesweit schließen mehr Mädchen als Burschen die Schule mit der Reifeprüfung ab.
  • 13 Prozent der Pflichtschüler gehen zumindest teilweise in Nachmittagsbetreuung.
  • In Wien gehen Schüler vermehrt in die AHS-Unterstufe; in anderen Bundesländern dominiert die Neue Mittelschule.
  • Kinder nichtdeutscher Alltagssprache sind meistens in Klassen mit einer Mehrheit von Kindern nichtdeutscher Muttersprache.
  • Risikofaktoren für nichtdeutsche Alltagssprache, bildungsferner Haushalt und/oder niedriger Berufsstatus der Eltern.
https://images.kurier.at/46-69325756.jpg/126.212.966 Oksana Kuzmina/Fotolia Bildnummer: 52947996 School children in classro… Bildnummer: 52947996 School children in classroom at lesson auf aufgetischt ausbildung bestuhlung board college einordnen erfolg freundschaft gelehrsamkeit gruppe grün hand heranwachsender jung junge kaukasier kind klassenkamerad klassenzimmer kreide lebensstil lehrbuch lehrer lektion leute little maths mädchen pupille rücken schriften schule schulkind schulnoten schultafel schülerin weiß zusammen

Der am Mittwoch präsentierte Nationale Bildungsbericht 2015 spricht sich unter anderem für die Einführung eines Sozialindex für Schulen aus. So sollen die Auswirkungen der Zusammensetzung von Klassen und Schulen verbessert werden. Für die neue Bildungsministerin Sonja Hammerschmid sei soziale Durchmischung an den Schulen nicht ausreichend gegeben, Bildung werde großteils immer noch vererbt. "Das muss sich ändern. "

Das Matthäus-Prinzip

Die Zusammensetzung vieler Klassen bzw. Schulen führt derzeit zu einer Art schulischem Matthäus-Prinzip nach dem Motto: "Wo viele Schüler mit lernhemmenden Eigenschaften zusammengefasst werden, ergibt sich nicht nur der zu erwartende negative Effekt, sondern es kommt noch ein Malus dazu, weil sich diese Effekte verstärken", so Herausgeber Ferdinand Eder. Umgekehrt entstünde - etwa an vielen Gymnasien - neben den erwartbar guten Effekten noch ein zusätzlicher Bonus, weil die Schüler noch zusätzliche Leistungsdynamik entwickelten.

Bestes Beispiel für eine solche Häufung negativer Effekte sei etwa Wien: Die Bundeshauptstadt mit ihrem hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund erhalte nun auch noch den größten Anteil an Flüchtlingskindern, so Eder. So entstünden Brennpunktschulen mit einem zusätzlichen Malus. Dieser Entwicklung lasse sich aber bildungspolitisch nur schwer gegensteuern - das gehe nur über Sozial- und Wohnbaupolitik.

https://images.kurier.at/46-80819120.jpg/200.838.937 APA/HELMUT FOHRINGER ANGELOBUNG DER NEUEN SPÖ-REGIERUNGSMITGLIEDER: HAM ABD0087_20160518 - WIEN - ÖSTERREICH: Sonja Hammerschmid (Bildung) und BP Heinz Fischer am Mittwoch, 18. Mai 2016, anl. der Angelobung der neuen SPÖ-Regierungsmitglieder in der Präsidentschaftskanzlei in Wien. - FOTO: APA/HELMUT FOHRINGER Zusammensetzung nach zum Zufallsprinzip

Innerhalb der Schulen sollten aber zumindest die Klassen reflektiert zusammengesetzt werden. "Einfach nach dem Zufallsprinzip, etwa alphabetisch", plädierte Eder. Die oft übliche Zusammensetzung nach bestimmten Kriterien führe oft zu einer weiteren Häufung negativer Effekte. Wo ein Ausgleich nicht möglich sei, bedürfe es zusätzlicher Ressourcen, um eine Differenzierung zu ermöglichen.

Außerdem müsse viel stärker auf individuelle Förderung der Schüler gesetzt werden als auf Versuche, möglichst homogene Leistungsgruppen zu schaffen. "Diese Homogenisierung über die Leistungsgruppen hat etwa in der Hauptschule nie funktioniert - und sonst eigentlich auch nicht." Die dahinterstehende Idee, dass ein Lehrer mit auf den Durchschnitt ausgelegtem Unterricht alle gleichzeitig erreicht, lasse sich aufgrund der wachsenden Heterogenität der Schülerschaft auch ohnehin nicht mehr verwirklichen.

Bildungsministerin Sonja Hammerschmid mit Bundespräsident Heinz Fischer https://images.kurier.at/46-81079778.jpg/200.838.932 APA Kosten pro Schüler im Bundesländervergleich Kosten pro Volksschüler nach Bundesländern und im Gesamtschnitt - Landkarte GRAFIK 0602­16, 88 x 55 mm "Idee der Selektion" ist überholt

"Der rapide Wandel der Schülerschaft lässt die traditionelle Form der Förderung durch leistungshomogene Gruppen zu eindimensional und damit obsolet erscheinen", heißt es etwa im Bericht. "Die Idee der Selektion [...] ist gesellschaftlich überholt, insofern als längst alle Kinder und Jugendlichen zu einem möglichst hohen Kompetenzniveau geführt werden müssen, um in einer Wissensgesellschaft zu bestehen."

Das Problem derzeit sei auch die Illusion, Schüler irgendwie in die für sie passende homogene Gruppe hinunterstufen zu können, meinte Eder. Das beginne an der AHS-Unterstufe und habe sich in der Hauptschule fortgesetzt: "Solange es irgendwie geht, wird nach unten weitergeleitet." Dabei dürfe es eben nicht darum gehen, die Kinder in die vermeintlich richtige Gruppe abzuschieben, sondern sich selbst um sie zu kümmern - organisatorisch unterstützt etwa durch mehr Unterrichts- bzw. Lernzeit etwa in Ganztagsangeboten.

Die Pädagogen könnten das durchaus, ist sich Eder sicher: "Wer wie ich im ländlichen Raum aufgewachsen ist, hat ja mitbekommen, dass der Lehrer ganz locker vier Jahrgangsstufen in einem Raum unterrichtet hat." Klar sei aber auch, dass eine solche Ausrichtung eine "völlige Abkehr von einem an Selektion orientierten schulischen System" erfordert, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts.

AHS-ÜBERTRITTSQUOTEN: Nur 30 Prozent der sozialen Ungleichheiten beim Übergang von der Volksschule zur AHS-Unterstufe sind durch Leistungsunterschiede zu erklären. Vergleicht man nur Schüler mit gleicher durchschnittlicher Mathematikkompetenz, treten 64 Prozent an das Gymnasium über, wenn die Eltern über Hochschulbildung verfügen, aber nur 24 Prozent, wenn die Eltern maximal Pflichtschulabschluss oder eine Berufsausbildung mitbringen. (C7.4)

ALLTAGSSPRACHE: In den Volksschulen spricht mehr als ein Viertel der Kinder eine andere Alltagssprache als Deutsch - die Verteilung ist dabei aber äußerst unregelmäßig: In Schulen in dünn besiedelten Gebieten sind es acht Prozent, in dicht besiedelten Regionen 51 Prozent. Allein Wien kommt dabei auf 56 Prozent, die urbanen Gebiete Oberösterreichs und Salzburgs aber ebenfalls auf 48 bzw. 47 Prozent. In der vierten Klasse Volksschule sprechen mehr als zwei Drittel der Schüler mit Migrationshintergrund zu Hause sowohl Deutsch als auch ihre Herkunftssprache, nur 23 Prozent sprechen in der Familie gar kein Deutsch. Das Herkunftsland hat keinen Einfluss. Unter den Sonderschülern sind Kinder mit nicht-deutscher Alltagssprache mit 31 Prozent (im Vergleich zu 23 Prozent an den Volksschulen) überrepräsentiert. (A2.3, B2.1, B2.2)

BILDUNGSABBRUCH: Für 6,4 Prozent eines Jahrgangs war 2013/14 nach Absolvierung der Schulpflicht Schluss mit der Ausbildung, 2009/10 waren es noch 7,2 Prozent. Besonders hoch ist der Anteil mit 13,1 Prozent unter männlichen Jugendlichen mit nichtdeutscher Alltagssprache, bei Mädchen aus dieser Gruppe sind es 10,4 Prozent. Besonders viele Jugendliche, die nach der Pflichtschule keine weitere Ausbildung machen, gibt es in Wien (8,5 Prozent). (D2.1)

BILDUNGSAUSGABEN: Die staatlichen Ausgaben pro Schüler unterscheiden sich nicht nur nach Schultypen, sondern auch stark nach Bundesländern. Am günstigsten sind angesichts der wenigen Wochenstunden die Volksschulen mit 7.000 Euro pro Schüler und Jahr, AHS-Unterstufen kommen auf 8.400 Euro, Neue Mittelschulen sowie berufsbildende Schulen auf rund 11.400 Euro. Bei den Pflichtschulen schwanken die Kosten je nach Bundesland um rund 1.000 Euro. (B3.1)

COMPUTERAUSSTATTUNG: Österreichs Schulen sind im internationalen Vergleich gut mit Computern ausgestattet, pro 2,9 Sekundarschülern steht ein PC zur Verfügung. Zwischen 2009 und 2012 hat sich die Ausstattung in diesem Bereich allerdings laut PISA-Studie nicht weiter verbessert. (C2.3)

GESCHLECHTERROLLEN: Bei der Schul- und Ausbildungswahl in den weiterführenden Schulen spielt das Geschlecht in Österreich eine starke Rolle. Nur ein Drittel der Schüler ist in Schulformen, wo das Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichen ist. An AHS hingegen besucht nur ein Drittel Schulen mit Geschlechterdominanz. Unterschiede gibt es auch bei den Abschlüssen: Bundesweit schließen mehr Mädchen als Burschen die Schule mit der Reifeprüfung ab (C7.6, D8.1)

MATHEMATIK-KOMPETENZEN: Zwischen 2010 und 2013 haben die Schüler der vierten Klasse Volksschule ihre Mathe-Kenntnisse deutlich verbessert. Haben bei der Ausgangsmessung (Baseline-Testung) 2010 noch 19 Prozent die Bildungsstandards nicht erreicht, waren es 2013 nur noch elf Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil derer, die die Standards erreicht (von 59 auf 65 Prozent) und übertroffen haben (von sechs auf 12 Prozent). (D4.1)

SCHULISCHE NACHMITTAGSBETREUUNG: 13 Prozent der Pflichtschüler gehen zumindest teilweise in Nachmittagsbetreuung. Die politische Erwartung, durch Ganztagsschulen Bildungschancen vom sozialen Hintergrund zu entkoppeln, geht den Daten zufolge derzeit allerdings nicht auf, denn je höher der Sozialstatus, umso eher werden Schulen mit Nachmittagsbetreuung besucht. (C2.4)

SCHULTYPEN: Beim Besuch der Schultypen gibt es deutliche Unterschiede nach Bundesländern. So besuchten 2013/14 in Wien 53 Prozent der Schüler die AHS-Unterstufe, der Anteil ist damit doppelt so hoch wie in anderen Bundesländern. In anderen Bundesländern dominiert die Neue Mittelschule. Allerdings besuchen in Städten generell rund 50 Prozent der Schüler eine AHS. Auch bei den weiterführenden Schulen gibt es deutliche Unterschiede: In Oberösterreich und den westlichen Bundesländern besuchen relativ viele Schüler Berufsschulen, in Wien 29 Prozent ein Gymnasium und damit doppelt so viele wie in Oberösterreich. (B1.2, C1.5)

SEGREGATION: Kinder nichtdeutscher Alltagssprache sind meistens in Klassen mit einer Mehrheit von Kindern nichtdeutscher Muttersprache. Sitzen sie dadurch mit vielen Schülern mit unterdurchschnittlichen Deutschkenntnissen in der Klasse, haben die einzelnen Schüler schlechtere Chancen, Defizite in der Unterrichtssprache auszugleichen. (B2.3)

SONDERPÄDAGOGISCHER FÖRDERBEDARF (SPF): In Österreich hatten 2013/14 rund 5,3 Prozent der Pflichtschüler SPF wegen psychischer oder körperlicher Behinderung, das sind mehr als in früheren Jahren. Der Anteil reicht dabei von 3,9 Prozent der Pflichtschüler (Tirol) bis zu 6,5 Prozent (Wien). Im Vergleich zu früher werden immer mehr SPF-Schüler gemeinsam mit nicht-behinderten Kindern unterrichtet. Gleichzeitig ist jedoch die Zahl der Kinder mit SPF, die an Sonderschulen unterrichtet werden, konstant geblieben. Insgesamt besuchen 17 Prozent aller Pflichtschüler Klassen mit Integrationsschülern. (C3.1)

SOZIOÖKONOMISCHES RISIKO: Ein Drittel der Volksschüler gehört zu mindestens einer jener drei sozialen Gruppen, die ein erhöhtes Risiko haben, ihre Bildungspotenziale nicht auszuschöpfen: nichtdeutsche Alltagssprache, bildungsferner Haushalt und/oder niedriger Berufsstatus der Eltern. Sieben Prozent weisen mindestens zwei der Risikofaktoren auf, zwei Prozent alle drei. In Ballungsräumen treffen sogar auf 12 Prozent der Volksschüler mehrere Risikofaktoren zu. (A 2.4)

VORSCHULSTUFE: Immer mehr Kinder werden in Vorschulklassen eingestuft (2006: 7,2 Prozent; 2013: 10,4). Dabei gibt es massive Unterschiede zwischen den Bundesländern, Spitzenreiter sind Salzburg (22,5) und Vorarlberg (21,0 Prozent). Besonders groß ist der Anteil unter Schülern mit Sonderpädagogischem Förderbedarf wegen körperlicher oder psychischer Behinderung (13,2 Prozent) und Kindern nicht-deutscher Alltagssprache (22,9 Prozent). (C1.2)

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