Spindelegger: In EU-Migrationspolitik "auf den Neustart-Knopf drücken"
„Alles Strittige vergessen und auf den Neustart-Knopf drücken“ – das empfiehlt Michael Spindelegger für die europäische Migrationspolitik. Der Generaldirektor des in Wien angesiedelten International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) und frühere ÖVP-Vizekanzler sieht den besten Zeitpunkt dafür genau jetzt – „wenn sich die neue EU-Kommission formiert und mit frischem Wind beginnt“.
Ein 70-Punkte-Konzept, wie die kontroversielle Migrationsfrage in der EU besser gelöst werden kann, wird das Zentrum im Herbst öffentlich präsentieren. Mit dem KURIER sprach Spindelegger schon jetzt, die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wird das Programm demnächst erhalten.
Wo soll diese neue Migrationspolitik ansetzen? Was ist das Wichtigste?
Zunächst muss man in der EU klare, gemeinsame Ziele für die nächsten Jahre festlegen. Dabei kann man ja einen Pilotversuch unternehmen. Im Juni gab es die Diskussion über Zentren im Bereich der EU-Außengrenzen. Es geht dabei nicht um die Hotspots in Griechenland und Italien. Wir denken, dass man in so einem Zentrum etwas ausprobieren kann, wo ein Verfahren von A bis Z abgewickelt wird, bis hin zur Frage, ob der Migrant asylberechtigt ist oder nicht. Und wenn die Antwort mit Nein ausfällt, so soll er dann gleich von diesem Zentrum aus zurückgeschickt werden. Solch ein Pilotprojekt würden wir ausarbeiten, wenn die Kommission das will. Das wäre einen Versuch wert, ob solch ein Prozess innerhalb von sechs Monaten funktioniert, mit freiwillig teilnehmenden Staaten.
Gab es denn nicht schon Überlegungen für so ein Zentrum, etwa in Albanien?
Ich kenne derzeit nichts, was in diese Richtung geht. Aber wichtig ist vor allem zu sagen, dass dieser Prozess von Anfang bis Ende direkt dort in diesem Zentrum durchgeführt wird. Sonst beginnt wieder dieser Kreislauf: Ich lass mich als Asylsuchender in einem Land registrieren, aber dann finde ich mich in einem anderen Land wieder und starte von Neuem.
Geht es darum, dass Asylanträge künftig nur noch außerhalb der EU gestellt werden sollen?
Es kann auch innerhalb der EU sein, aber nahe einer Grenzregion. Der Punkt ist die Freiwilligkeit der teilnehmenden Staaten, und bei diesem Testverfahren sollen auch die EU-Asylagentur EASO und die EU-Grenzschutzagentur Frontex gemeinsam die Verfahren unterstützen und schauen, ob es somit nicht in einem kurzen Zeitraum gelingen kann, die irreguläre Migration hintan zu halten.
Es gibt kein gemeinsames EU-Asylrecht. Nach welchem Asylrecht sollte denn in so einem Zentrum verfahren werden?
Wenn sich mehrere Staaten finden, die mitmachen, etwa Deutschland oder Österreich, kann man sich darauf einigen, welches Recht dort anwendbar ist.
Mittlerweile verworfen wurden ja wieder Ideen, so ähnliche Zentren in Ägypten oder Tunesien zu errichten.
Man darf nicht den Fehler machen, ein Land zu nennen, ohne zuvor mit den jeweiligen Regierungen einen Deal ausgearbeitet zu haben. Zuerst muss man als EU einmal klarmachen, dass wir so ein Zentrum wirklich wollen – was ja noch nicht für alle Staaten feststeht. Und erst dann kann man überlegen, was man einem Staat anbietet, auf dessen Hoheitsgebiet so ein Zentrum stehen könnte. Ich würde aber zunächst kein spezielles Land in den Fokus nehmen.
Wie kann es sein, dass die Zahl der illegalen Ankünfte so stark sinkt, aber die Zahl der Asylanträge viel höher ist?
Wir haben in diesem Jahr so tiefe illegale Ankunftszahlen wie lange nicht mehr - rund 40.000: Aber wissen Sie, wie viele Menschen heuer im ersten Halbjahr einen Asylantrag gestellt haben? 300.000. Das hat vor allem mit Schleppern zu tun, die Migranten bis direkt ins Zielland bringen, auch mit Familienzusammenführung und mit den sogenannten „sekundären Bewegungen“.
Das sind zum einen Asylsuchende, die nach einer Zurückweisung in einem anderen Land erneut einen Antrag stellen. Zudem reisen aus Venezuela und Kolumbien Menschen legal und visumfrei in Spanien ein, viele gehen dann in andere EU-Staaten und beantragen dort Asyl. Die Ankünfte aus diesen beiden Ländern erreichen Größenordnungen, die gewaltig sind. Spanien müsste seine Politik überdenken, Menschen aus Venezuela und Kolumbien ohne Visum einreisen zu lassen, wenn es dafür missbraucht wird, in Deutschland Asyl zu beantragen.
Was müsste in der EU-Migrationspolitik noch anders werden?
Wir haben gute Erfahrungen gemacht mit Migrationspartnerschaften, wie sie die Schweiz mit vielen afrikanischen Ländern entwickelt hat. Entlang einer Migrationsroute, also vom Ursprungsland über die Transitländer bis zum Zielland werden Länder an einen Tisch gebracht und dann wird ein gemeinsamer Migrationszugang erarbeitet.
Uns ist es ein besonderes Anliegen, die Westbalkanländer mit einzubeziehen. Wir sehen, dass es notwendig ist, diesen Ländern bei der Migrationsbewältigung zu helfen. Mit den Rückführungen sind sie überfordert, sie haben die diplomatischen Vertretungen in den Herkunftsländern gar nicht. Wir müssen daher die Westbalkanländer integrieren, sonst werden die Probleme uns hier einholen. Wir haben in der Krise gelernt, dass Durchwinken von Flüchtlingen keine Lösung sein kann, aber dafür muss man diese Länder auch unterstützen. In finanzieller, aber auch in technischer Hinsicht
Womit wir bei der Frage wären, warum Rückführungen so schwierig sind?
Die Rückführungspolitik muss pragmatischer und effizienter werden. Die viele Hunderttausenden Ausweisungsdekrete werden zu einem großen Teil nicht befolgt, es bleibt immer mehr als die Hälfte der abgewiesenen Asylwerber in der EU. 2018 waren es von den rund 500.000 Menschen etwa 42 Prozent, die ausgereist sind, aber das heißt, dass 58 Prozent geblieben sind. Das muss man auf eine andere Basis stellen, weil sonst der Rechtsstaat in Frage gestellt wird. Wenn jemand nicht als Asylwerber akzeptiert ist, muss natürlich eine Rückführung stattfinden. Aber dafür muss man an vielen Schrauben drehen, vor allem in den Herkunftsländern, denn wenn diese nicht kooperieren, werden die abgewiesenen Asylwerber immer hier bleiben. Und das führt dann zu Ressentiments in der heimischen Bevölkerung, zum Abdriften der Abgewiesenen ins Illegale.
Geht es nicht auch darum, den Zustrom zu drosseln?
Das geht nur, wenn man mit den Herkunftsländern kooperiert. Wenn es dort keine Partnerschaft gibt, dann wird dieser Ansturm sich fortsetzen. Das Bevölkerungswachstum in Afrika, in Pakistan, in Afghanistan, das alles ist Potenzial für Migration. Darum ist diese Migrationspartnerschaft so wichtig, und dafür muss man auch etwas anbieten. Dafür muss es Anreize für Herkunftsländer geben, Ausbildungsmöglichkeiten, legale Migrationsmöglichkeiten. Dann bekommt man als Zuwanderungsland auch Menschen, die besser geeignet sind, sich zu integrieren und in den Arbeitsmarkt einzusteigen.
Gibt es diese Partnerschaften denn nicht schon?
Es gibt einige, wie mit Niger, aber etwa mit Nigeria gibt es kein Rückführungsabkommen der EU, und das wird zunehmend zu einem Problem. Nigeria hat bald 200 Millionen Einwohner, diese Zahl soll sich bis 2050 verdoppeln, und natürlich ist für viele von ihnen Europa ein Kontinent, wo sie hin möchten. Aber wenn man mit Nigeria ein solches Abkommen schließen will, muss die EU eben erst einmal ihr gemeinsamen Ziele definieren.
Ist es egal, welches Land den EU-Flüchtlingskommissar stellt?
Egal ist es nicht, es hängt vom persönlichen Engagement des Kommissars ab. Aber er kann auch keine Wunder bewirken. Entscheidend ist vielmehr, dass innerhalb der EU-Kommission künftig alles besser koordiniert wird. Nötig ist eine Politik aus einem Guss, die dann auch von den Staaten legitimiert wird. Unser Vorschlag: Die Zuständigkeiten in der Kommission für die Migration, mit der bisher drei bis vier EU-Kommissare beschäftigt waren, muss besser koordiniert werden. Die Agenda solle auf ein höheres Level gehoben werden, in den Bereich eines Vize-Kommissionspräsidenten. Und diesem würden dann mehrere Kommissare zur Seite gestellt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Johannes Hahn mit seiner Erfahrung als zweimaliger Kommissar so ein Vizepräsident sein könnte, der generell für das Migrationsthema zuständig ist.
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