Wo Europa seine verlagerten Außengrenzen schützt - in Niger

Schon in Afrika will die EU die Zuwanderung stoppen, mit Hilfe eines der ärmsten Länder der Welt. Eine Reportage aus dem Niger.

Bis vor wenigen Monaten war immer montags Abfahrt. Kolonnen von Geländewagen wälzten sich dann von der Wüstenstadt Agadez aus in Richtung Norden, riesige Staubwolken hinter sich herziehend, zur libyschen Grenze. Oft waren es mehrere Tausend Menschen. Zusammengepfercht auf den kleinen Lieferwägen fuhren sie mit dem Ziel Europa los.

Seit die Polizeikontrollen verschärft wurden und der Transport illegaler Migranten im Staat Niger unter Strafe steht, gibt es keine fixen Fahrzeiten mehr. „Jetzt sind es auch weniger Menschen“, erzählt Issifou Djibo. Aber gefahren wird trotzdem. Nachts, wenn die Polizei nicht kontrolliert, in kleinen Gruppen, auf anderen Routen durch die Sahara. „Das macht die Fahrt noch viel gefährlicher und viel teurer“, weiß der nigrische Journalist, der Dutzende solcher Kolonnen abfahren sah. Das mehr als 20-fache eines monatlichen Lehrergehalts kassieren die Fahrer mit einer einzigen, zweitägigen Wüstenfahrt an die Grenze. So lassen sich auch die erweiterten Grenzkontrollen zwischen Niger und Libyen leicht umgehen. „Wer zahlt, geht durch“, hat Issifou unzählige Male beobachtet.

Auch LemLem hat mit ihren beiden kleinen Töchtern einen dieser Pick-ups bestiegen. Nahe der libyschen Küste war allerdings die Reise für die 27-jährige Frau aus Eritrea jäh zu Ende. Sie wurde von Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) entführt. „Es gab kein Essen, kaum Wasser, vier Mitgefangene sind in diesem Monat neben mir gestorben“, schildert die zweifache Mutter mit regungsloser Miene. Mehr als 6000 Dollar hatte sie Menschenschleppern für das Versprechen bezahlt, sie und ihre Kinder durch die Wüste und über das Meer zu bringen.

Verkauft und versklavt

 Wo Europa seine verlagerten Außengrenzen schützt - in Niger

LemLem (27) floh aus Eritrea - und wurde monatelang in Libyen gefangengehalten

Stattdessen wurden LemLem und weitere Eritreer verkauft, eingesperrt, versklavt und vergewaltigt. Monatelang – ehe sie plötzlich geholt und auf ein Boot gesetzt wurden. „Wir waren einen Tag auf diesem Boot, als uns die libysche Küstenwache gestoppt und wieder zurückgebracht hat“, schildert die junge Frau dem KURIER. Und es waren Mitglieder jener libyschen Küstenwache, die von der EU trainiert und mit europäischen Finanzhilfen unterstützt wird, die LemLem wieder verkauften. „Ich habe keine Worte dafür, was in diesen sechs folgenden Monaten passiert ist“, sagt sie. Ein 14-jähriger Jugendlicher, der mit ihr in derselben Lagerhalle gefangen war, meint nur: „Ich war nur froh, dass ich kein Mädchen bin.“

Um den Zustrom von Migranten aus Afrika nach Europa zu stoppen, sucht die EU die Zusammenarbeit mit den afrikanischen Staaten. Libyen, von inneren Kämpfen erschüttert, erweist sich dabei als unverlässlich und begeht schwerste Menschenrechts-Verbrechen. Ein Auffanglager für Migranten in Libyen? Undenkbar, warnt das UN-Flüchtlingshilfswerk. "Alle Berichte, die wir in den vergangenen Monaten gesammelt haben, besagen Dasselbe", schildert ein in Libyen tätiger Mitarbeiter des UNHCR "Wer von den Booten zurück ins Land gebracht wird, wird gefangen genommen und dann drei oder vier Mal weiterverkauft."

 Wo Europa seine verlagerten Außengrenzen schützt - in Niger

Niger - Durchgangsland für die Migrationsrouten.

Durchgangsland

Einen umso geeigneteren Partner glaubt Europa indessen in Libyens südlichem Nachbarn Niger gefunden zu haben. Aus dem bitterarmen afrikanischen Staat (15 Mal größer als Österreich) zieht es kaum jemanden nach Europa. Saisonarbeiter aus Niger gehen meist nach Algerien, den Tschad oder Mali. Doch durch den politisch weitgehend stabilen Staat Niger führen die großen Migrationsrouten, von den Staaten Westafrikas sowie von Nigeria nach Libyen, Algerien und ans Meer. Und so drängt die EU die Regierung in der nigrischen Hauptstadt Niamey: bessere Grenzkontrollen, die Menschenschmuggler verhaften, die Sicherheit erhöhen, die illegalen Migranten zurückschicken. An die 130 Ausbildner der EU-Mission EUCAP bieten Hilfe für Nigers Armee und Polizei. „Exzellent“ sei die Kooperation des Landes mit der EU, gerät ein europäischer Diplomat in Niamey geradezu ins Schwärmen. „De facto ist Niger eine der südlichen Grenzen Europas geworden“, sagt die Leiterin des UN-Flüchtlingshilfswerkes in Niger, Alessandra Morelli. Doch sie warnt eindringlich. „Europa kann das Migrations-Problem nicht einfach auslagern.“

Und der Bürgermeister der Wüstenstadt Agadez, die seit Jahrhunderten von den durchziehenden Menschen auf der Nord-Süd-Route der Sahara gelebt hat, bremst die Erwartungen der Europäer: "Seit 2015 sind an die 300.000 Menschen durch Agadez nach Norden gegangen. Das kann man nicht so schnell auf 1000 Menschen im Jahr herunterschrauben", sagt Rhissa Feltouh.

Tatsächlich sei der Migrantenstrom in Richtung Norden geringer geworden, bestätigt auch die UN-Migrationsagentur IOM dem KURIER. Von der Errichtung eines großen Aufnahmezentrums („Anlandeplattform“), wie es der EU und auch der österreichischen Regierung für afrikanische Staaten vorschwebt, will man hier allerdings nichts wissen. Schon jetzt beherbergt Niger 59.000 Flüchtlinge aus Mali und 250.000 Flüchtlinge aus Nigeria, die vor den Angriffen der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram flohen.

Hilfe bietet Niger auch für ein Aufnahmezentrum besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge: Sie werden vom UNHCR aus libyscher Gefangenschaft geholt, nach Niger gebracht und sollen Asyl in Europa erhalten. 1536 Flüchtlinge wurden auf diesem Weg bisher evakuiert. LemLem und ihren beiden Töchter (sechs und neun Jahre alt) waren unter ihnen.

Doch wer seine Versprechen bisher nicht einhielt, waren die EU-Staaten. Rund 2800 Flüchtlinge sollen bis 2019 von UNHCR-Zentrum in Niamey in die EU oder nach Kanada und die Schweiz geholt werden. Tatsächlich gehen konnten aber bisher nur 339.

 Wo Europa seine verlagerten Außengrenzen schützt - in Niger

Deportation von Migranten aus Algerien

Freiwillige Heimkehr

Auch die sieben Übergangslager der UN-Migrationsagentur IOM in Niger sind bis auf den letzten der insgesamt rund 1600 Plätze gefüllt. Wer hier Aufnahme fand, wartet auf seine freiwillige Heimkehr. So wie der 31-jährige Mammadou. Der Senegalese hat jahrelang in Libyen gearbeitet, Europa war für den jungen Vater einer Tochter nie ein Thema. Doch im Chaos Libyens wurde er aus seinem eigenen Geschäft geworfen, seiner gesamten Habe beraubt und von Straßenbanden angeschossen. Am Freitag erhielt er seinen neuen Pass: „Ich bin nur froh, heimzugehen.“

Die vielen Migranten, die bisher in den Staaten Nordafrikas nach Arbeit gesucht haben - sie stellen für Niger das ungleich größere Problem dar als jene, die nach Europa wollen. Insbesonders, seit Libyen in Chaos und Gewalt versinkt. Und seit kurzem auch seit Algerien damit begonnen hat, illegale, aber auch legale Migranten einfach in Busse zu stecken, durch die Wüste zu karren und vor der Grenze zu Niger einfach rauszuwerfen. Über 12.000 Menschen hat die UN-Migrationsagentur IOM in Niger heuer bereits betreut und Unterstützung für ihre Heimkehr geleistet. Bedingung. Die Migranten gehen freiwillig  - in ihre Heimatländer Nigeria, Guinea, Senegal, Gambia und viele andere.

LemLem und ihre beidenTöchter müssen noch eine Weile in Niamey warten. Doch ihre Zusage, um Asyl ansuchen zu dürfen; hat die Eritreerin bereits. Deutschland wird die schwer traumatisierte junge Frau und ihre Mädchen aufnehmen. Ihre Pläne? „Ich hoffe, dass ich Deutsch lernen und etwas arbeiten darf. Und ich wünsche mir, dass meine Kinder in die Schule gehen dürfen.“

Kommentare