Wollte Schilling die Grünen wirklich hintergehen?
Seit Dienstag steht ein politisch hochbrisanter Vorwurf gegen Lena Schilling im Raum. Die EU-Spitzenkandidatin der Grünen soll mit dem Gedanken gespielt haben, nach der EU-Wahl die Grünen zu verlassen und zu einer EU-Linksfraktion zu wechseln. Und: Sie soll die Grünen immer "gehasst" haben.
Wollte Schilling die Partei wirklich dermaßen hintergehen, ihre Wähler täuschen?
Die 23-Jährige dementiert den entsprechenden Artikel des Standard noch Dienstagabend. Am Mittwoch versuchen die Grünen einen Gegenangriff: Generalsekretärin Olga Voglauer verdächtigt unter anderem die SPÖ einer Kampagne gegen Schilling. Das Problem: Dem Verdacht fehlt quasi jede Substanz.
Das diffuse Feindbild
Denn Schillings Gegenspieler, zumeist ehemalige Freundinnen und Freunde, stammen zwar teils aus dem SPÖ-Umfeld, aber auch jenem der KPÖ, der Grünen selbst und der Klimabewegung. Vage: Aus verschiedenen Biotopen der "Wiener Linken".
Einen "konkreten Feind" zu benennen, ist also kaum möglich. Voglauer erkennt das kurz darauf und nimmt einen Teil ihrer Aussagen zurück. Dass Schilling bei besagter Pressekonferenz mit Voglauer vergleichsweise ruhig und konstruktiv performt, das geht unter. Der Schaden ist angerichtet. Dessen sind sich die Grünen auch intern bewusst.
Dennoch bleibt die Frage, wie stichhaltig die neuen Vorwürfe gegen Schilling sind? Der Versuch einer Einordnung.
"Eine andere Organisation aufbauen"
Vorab: Der Standard berichtet von mehreren Personen, die bezeugt hätten, dass Schilling im Jänner und Februar in Gesprächen tatsächlich mit einem Parteiwechsel nach der Wahl kokettiert habe. Diese Personen wurden anonymisiert und sind somit für den KURIER nicht greifbar.
Konkret bezieht sich der Standard auf einen Chatverlauf Schillings vom 24. Jänner 2024, mit einer ehemaligen Freundin aus dem SPÖ-Umfeld.
"Bis 24. Februar (Bundeskongress der Grünen, bei dem die EU-Kandidatenliste beschlossen wurde, Anm.) muss ich halbwegs lieb sein dann bin ich gewählt und die Grünen können nichts mehr machen muhahha", schreibt Schilling. Ein paar Nachrichten später meint sie auch noch, sich "ur" darüber zu freuen, "wie viele junge Mädels sich bei mir melden vielleicht können wir andere orga (Organisation, Anm.) aufbauen". Nachsatz: "haha".
Chat zwischen Lena Schilling und einer ehemaligen Freundin, 24. Jänner 2024
Wie geht es dir du liebe?
Hahaha, mir geht’s gut. Die Frage is eher wie es dir geht <3
Was macht das Herz und die Nerven?
Bin bissi krank geworden durch den Stress aber noch is alles ok
Bis 24. Februar muss ich halbwegs lieb sein dann bin ich gewählt und die Grünen können nichts mehr machen muhahha
Hahaha, ich find diese Gratwanderung hast du bis jetzt fantastisch hinbekommen
Naja, dass der Körper mit dem Stress ein bissl schreit is klar
Hahaha danke wird noch lustiger
Wie schaut’s denn bei dir aus am Freitag? Demo? […] Also solltest du halbwegs fit sein…
Aber es freut mich Ur wie viele junge Mädels sich bei mir melden vielleicht können wir andere orga (Organisation, Anm.) aufbauen haha
(Zur Demo-Frage, Anm.:) Ja fix […] wenn ich gesund bin
Nice gehen wir zusammen Demo
Dass Schilling ernsthaft plante, zu einer linken EU-Fraktion zu wechseln, wie vom Standard berichtet, geht aus dem Chat nicht hervor. Die Unterhaltung wirkt zudem scherzhaft.
Bei einem "feuchtfröhlichen Abend" Ende März sollen die zitierte Freundin, Schilling und Gabriel Hofbauer-Unterrichter, SPÖ-Politiker in Wien Alsergrund, ebenso einen möglichen Wechsel Schillings nach der Wahl besprochen haben. Das sei aber "von anderen scherzhaft in den Raum" gestellt worden und Schilling sei "in keiner Weise darauf eingestiegen", so Hofbauer-Unterrichter.
Ist "Team Lena" die "andere Organisation"?
Am 21. März geht es im Chat um einen Termin für ein gemeinsames Arbeitstreffen. Schilling fragt ihre ehemalige Freundin etwa, wie man „Pensionistenheime“ inhaltlich erreichen könne. Hintergrund: Schilling will in einem "Mitmach-Wahlkampf" (#TeamLena, Anm.) gemeinsam mit jungen Menschen auch andere Zielgruppen ansprechen. War vielleicht damit die "andere Organisation" gemeint? Kann, muss aber nicht sein.
Die Frage des Hassens
Aus einem anderen Chatverlauf, der dem Standard vorliegt, soll sich erschließen, dass Schilling die Grünen "gehasst" habe. Schilling wird ihre Äußerung damit rechtfertigen, zu den Grünen lange ein sehr kritisches Verhältnis gepflegt zu haben. Das sei nie ein Geheimnis gewesen und habe sich durch die Kandidatur "stark verändert".
Die Grünen haben öffentlich geoutet, dass es sich bei der Chatpartnerin um Veronika Bohrn Mena handelt. Das Ehepaar Bohrn Mena hat Schilling bekanntlich geklagt, weil sie Gerüchte der häuslichen Gewalt über Ehemann Sebastian verbreitet haben soll. Der Streit zwischen Schilling und den Bohrn Menas eskalierte im März 2024.
Schilling haderte mit Kandidatur
Zuvor, das zeigt der Chatverlauf, pflegten Schilling und Veronika Bohrn Mena einen engen Austausch. Sie besprechen intensiv die Vor- und Nachteile einer Kandidatur Schillings bei der EU-Wahl. Bohrn Mena ist skeptisch, Schilling hadert. Sie "schwanke" noch, bekundet Schilling am 30. November 2023. Sie habe Angst davor, zu kandidieren – und noch mehr Angst, das nicht zu machen und "für immer zu bereuen".
Was aus Schillings Sicht für die Kandidatur spricht: „Das Klima ist wirklich mein Hauptanliegen geworden in den letzten Jahren“. Ob sie sich als Grüne sehe? Nein, aber vielleicht könne sie das lernen, schreibt Schilling. Und: "Ich hab niemanden so sehr gehasst wie die Grünen mein leben lang".
Lena Schilling und Veronika Bohrn Mena, 30. November 2024
Siehst du dich als grüne?
nein ehrlich gesagt
Aber vielleicht kann ich das lernen
Ich hab niemanden so sehr gehasst wie die Grünen mein leben lang
Den Begriff "hassen" verwendet Schilling übrigens bereits zuvor, salopp, in einem anderen Zusammenhang.
In den folgenden Tagen wird weiter über die Kandidatur abgewogen. Bohrn Mena moniert, dass Schilling offenbar nur die "fünfte Wahl" der Grünen sei. Schilling meint, das sei ihr egal. Sie habe keine Lust mehr "auf unseren Flohzirkus", auf die Wiener Blase "mit ihren Verstrickungen und Intrigen".
Versprechen nicht gehalten
Im Dezember hat sich Schilling offenbar für die Kandidatur entschieden. Sie schreibt "Ich hätte das nie gemacht ohne alles abzuwiegen […] Ich hab ihnen jeden Grünen Rahmen für meine Wahlplakate verboten. Ich glaub ich werd auch der Partei nicht beitreten".
Beide Ankündigungen wurden nicht eingehalten. Schillings Wahlplakate haben einen grünen Rahmen. Am 22. Mai stellt sie den Antrag auf die Parteimitgliedschaft – wohl, um ihren vermeintlichen Hass auf die Grünen demonstrativ zu widerlegen.
Was bleibt, ist ein grünes PR-Desaster. Aber auch die Frage, ob man alles, was eine Person im privaten Rahmen, gegenüber Vertrauenspersonen verbal oder in Chats äußert, wortwörtlich nehmen muss.
*Die Chatnachrichten wurden 1:1 übernommen, Fehler in Grammatik oder Interpunktion nicht ausgebessert
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