Lehrer zum PISA-Debakel: Bürokratie ist schuld
Jedes fünfte Kind verlässt die Schule, ohne sinnerfassend lesen zu können. Eine Katastrophe, die die Verantwortlichen achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Und die Schule ist offensichtlich immer weniger in der Lage, Kindern Grundsätzliches zu vermitteln.
Warum das so ist, wissen die am besten, die täglich im Klassenzimmer stehen: die Lehrerinnen und Lehrer. So zum Beispiel Ingrid Teufel, die pensionierte Pädagogin unterrichtete jahrelang in der Volksschule Friedrichsplatz in der Nähe des Wiener Westbahnhofs. Der Migrantenanteil ist hoch, die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind prekär. Wer hier aufwächst, hat ein hohes Risiko, Schulversager zu werden. Und doch haben es ihre Kolleginnen geschafft, dass so gut wie alle Kinder nach vier Jahren lesen und rechnen können.
Sie fordert von der Politik: "Hört auf, den Fokus nur auf Mathematik und Deutsch zu legen und immer alles zu testen, denn so erleben sich die Schwächsten immer nur als Nichtkönner. Schon aus reinem Selbstschutz fangen sie an, innerlich zu kündigen. Viel wichtiger ist es, dass alle Kinder erkennen können, dass sie Talente haben und wo ihre Stärken liegen. Wer sich als jemand erlebt, der etwas leisten kann und erfahren hat, wie man Hürden überwindet, kann mit seinen Schwächen besser leben."
Ein guter Lehrender begegne jedem lernenden Kind wertschätzend und bemühe sich, dessen Talente zu entdecken. "Dass Lehrkräfte kompetenzorientierte Jahresplanungen machen müssen, unterstützt sie dabei, den Blick auf die individuellen Talente, Stärken zu richten", sagt Teufel. Das Frustrierende: "Die Kinder sind sehr unterschiedlich. Doch die standardisierten Tests schicken alle Kinder durch das gleiche Test-Tor und sortieren sie aus. Das wiederum bewirkt, dass Lehrende sich auf ,Test-Fächer‘ konzentrieren und es vernachlässigen, anderen Stärken der Kinder Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken. Das ist ein Teufelskreis und frustriert sehr viele Leherinnen und Lehrer, weil sie so nicht individuell unterrichten können."
Stephan Maresch ist Pflichtschullehrergewerkschafter in Wien und kennt die Klagen seiner Kollegen: "Viele sind ermüdet von dauernden Reformen. Kaum wurde etwas umgesetzt, wird es schon wieder über Bord geworfen. Wir müssen wieder Ruhe ins Klassenzimmer bringen."
Sprachbarriere
Die Großstadt Wien habe spezielle Probleme: "Lehrer können mit vielen Eltern kaum kommunizieren, weil diese kein Wort Deutsch sprechen." Und im Klassenzimmer sitzen Kinder, die sowohl kulturell als auch sprachlich, religiös, ethnisch und sozial immer unterschiedlicher werden. So differenziert kann ein einziger Lehrer gar nicht unterrichten, dass er da jedem Kind gerecht wird." Dazu komme noch, dass sich Lehrer mit immer mehr Bürokratie herumschlagen müssen: "Sie schauen z. B., ob Flüchtlingskinder einen Freifahrschein bekommen, müssen Bücher für sie bestellen etc. In dieser Zeit könnten sie sich besser den Kindern widmen."
Sein Kollege Paul Kimberger, oberster Pflichtschulgewerkschafter, fordert deshalb mehr Unterstützungspersonal wie Sekretärinnen, Psychologen oder Sozialarbeiter: "Länder, die es geschafft haben, leistungsschwache Kinder besser zu fördern, investieren hier viel mehr." Und in Österreich? "Da bleibt Hilfe aus", kritisiert Maresch: "Ende Jänner habe ich z. B. an Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek geschrieben, dass wir Hilfe brauchen, damit wird 2000 Flüchtlingskinder besser ins Wiener Schulsystem integrieren können. Bis heute habe ich von der Ministerin keine Antwort erhalten." Dabei sei rasches Handeln entscheidend: "Wir erleben Flüchtlingskinder, die Schulverweigerer werden, weil sie mit der Situation völlig überfordert sind. Langfristig kommt das Nichthandeln teuer."
Höchste Zeit, die richtigen Reformen anzugehen. Kimberger nennt die wichtigsten Schritte zum Erfolg: "Die Gängelung durch die Schulbehörden muss aufhören – Lehrer werden derzeit mit zu viel mit Bürokratie überfrachtet. Statt Vorgaben benötigen sie pädagogische Freiheit. Supportpersonal an Schulen und eine frühe Förderung, in der Talente entdeckt werden, würden viel bringen."
Fast ein Jahr lang verhandelten einzelne Gruppen aus Bund- und Ländervertretern, im November wurden die Überschriften der "größten Bildungsreform seit Jahrzehnten" präsentiert. Seither wird um die Details der Reform weiter gefeilscht. Vor allem das Fundament der Reform, eine Verwaltungsreform, die neun Bildungsdirektionen statt der bisherigen neun Landesschulräte vorsieht, birgt offenbar sehr viel Konfliktpotenzial zwischen Bund und Bundesländern.
Spannend und grundsätzlich ausverhandelt ist das Thema Schulautonomie. Diese soll, teilweise schon ab Herbst, massiv ausgeweitet werden. Das Parlament wartet nun auf konkrete Gesetze. Vorgesehen ist jedenfalls, dass Lehrer mehr Freiheiten beim Unterrichten erhalten sollen. Demnach wären Lehrplan-Abweichungen bis zu 33 Prozent möglich. Das wäre viel Spielraum, wenn man bedenkt, dass Abweichungen derzeit maximal im Ausmaß von fünf bis zehn Prozent möglich sind. Jede Schule soll zudem selbst Öffnungszeiten und Unterrichtszeiten festlegen, was bisher nur mit ein Einschränkungen möglich ist. Auch im Bereich Personalautonomie sollen Direktoren mehr Entscheidungsbefugnisse darüber bekommen, welche neuen Lehrer eingestellt werden als auch welche Pädagogen nicht verlängert werden.
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