Analyse: Europa rückt an den Rand

Analyse: Europa rückt an den Rand
Europa wird durch den Wahlsieg Donald Trumps noch stärker verändert als die USA. Der Kontinent ist nur mehr auf den eurozentristischen Karten in der Mitte, Europa muss sich neu definieren und seine Rolle in der Welt finden. Eine Analyse von Helmut Brandstätter.

Der Historiker Norman Davies schreibt am Ende seines Meisterwerkes "Europe – A History":

"Europas Zukunft hängt stark von den Entwicklungen in Amerika ab. Solange die USA stark und relativ wohlhabend bleiben, wird sich der Status Quo in Westeuropa wahrscheinlich nicht ändern … Sollten die USA hingegen in eine Krise kommen, würden sich die Länder Europas zu einem gemeinsamen Schutz zusammen ziehen. Ein Sturm aus dem Westen könnte denselben Effekt haben wie der kalte Wind aus dem Osten … Früher oder später müssen die Staaten im Osten und Westen Europas ihre Identität, ihre Grenzen und ihre Loyalitäten neu definieren."

Vor 20 Jahren, im Jahr 1996, hat der britische Historiker Norman Davies diese prophetischen Worte geschrieben. Der kalte Wind aus dem Osten war abgeflaut, kommunistische Diktaturen suchten ihre Wandlung in demokratische Gesellschaften, aus dem Westen kamen noch Sicherheit und Ruhe. Georg Bush senior hatte als US-Präsident die Wiedervereinigung Deutschlands aktiv begleitet, sein Nachfolger Bill Clinton stand Europa freundlich interessiert gegenüber. Es war viel von der "Friedensdividende" die Rede, riesige Militärkosten des Kalten Krieges fielen endlich weg, Russlands Jelzin hatte zu Hause genug zu tun, die Bündnistreue der NATO galt unbestritten.

Jetzt haben wir eine Präsidentenwahl als "Sturm aus dem Westen" erlebt. Donald Trump ist ein Sieger, der sich dem russischen Autokraten Putin näher fühlt als den liberalen Demokratien Europas, und ein Geschäftsmann, der genau abrechnen will: Wenn ein kleines Land in der Nähe Russlands nicht genug bezahlt, dann wird es auch keinen Schutz erfahren. Diese Drohung hat Trump im Wahlkampf mehrfach wiederholt, die NATO sei "überholt." Das hat er nun relativiert, aber Verlässlichkeit sieht anders aus als der sprunghafte 70-Jährige.

Trump verändert alles

Analyse: Europa rückt an den Rand
U.S. Republican presidential nominee Donald Trump appears at a campaign roundtable event in Manchester, New Hampshire, U.S., October 28, 2016. REUTERS/Carlo Allegri/File Photo
Und ebenso plötzlich wie unvorbereitet reden EU-Politiker von einer Europäischen Armee oder von schnelleren Entscheidungen durch Mehrheitsabstimmungen im Rat der Regierungschefs. Nationalisten hingegen sehen die Chance, die EU endlich zu zerstören und den Euro schnell zu beenden. In welche Richtung wird es gehen?

Erinnern wir uns an Norman Davies und seinen Rat an alle Europäer, "Identität, Grenzen und Loyalitäten" neu zu definieren. Europas Grenzen? Zwei Staatschefs, beide schon länger im Amt, machen die Antwort leicht. Eine Türkei, deren Präsident von der Ausweitung seines Territoriums träumt, hat in der EU nichts verloren. Eine spätere türkische Führung, die wieder von Vernunft und Vertragstreue geleitet ist, wird die Frage neu stellen. Auch der russische Präsident nimmt es mit fremden Staatsgrenzen, Rechtsstaat und freier Presse nicht ernst. Wer diese Grundlagen der europäischen Idee, die nach dem 2. Weltkrieg umgesetzt wurden, nicht respektiert, gehört nicht dazu.

Basis Christentum

Und natürlich ist das Christentum Teil dieser Identität. Und zwar jenes Christentum, wie es sich über Jahrhunderte entwickelt hat, von der unterdrückenden, auch wissenschaftsfeindlichen Staatsreligion zu einer Glaubensrichtung, die zu den Wurzeln Jesu Christi zurückgekehrt ist, mit Toleranz, Nächstenliebe und der klaren Unterordnung unter die Verfassungen. Unter diesen Bedingungen hat auch der Islam Platz, als Religion von Privatpersonen, nicht als Handlungsanleitung für Staatsbürger oder gar Staatsorgane.

Schließlich sprach der Historiker Davies von Loyalitäten, die Europa werde klären müssen, wahrscheinlich der entscheidende Punkt: Kehrt die EU zur losen Wirtschaftsgemeinschaft zurück, in der Interessen abgewogen und politische Geschäfte gemacht werden, oder entsteht eine schlagkräftige Organisation von Staaten, die fairen Wettbewerb, auch faire Steuern einfordern kann? Die EU ist auf diesem Weg irgendwo stecken geblieben. Gerade der Nationalismus, der in seiner übersteigerten Form das größte Unheil über den Kontinent gebracht hat, erscheint in der Krise vielen wieder attraktiv. Dabei sollte sich Europa an seinen Stärken orientieren, und da hilft auch ein Blick in die Geschichte.

Die große Neugierde

Es taucht ja immer wieder die Frage auf, warum gerade Europäer "die Erde erobert" haben, also in unbekannte Erdteile vorgedrungen sind. Rein technisch waren etwa Araber und Chinesen schneller. Die berühmte Flotte des Admiral Zheng He unternahm zwischen 1405 und 1433 sieben große Expeditionen, im indischen Ozean bis zur afrikanischen Küste. Doch dann zog sich eine neue Führung auf das Festland zurück, wertvolle Kenntnisse gingen verloren. Christoph Columbus fuhr 1492 mit deutlich kleineren Schiffen los, kam zwar nicht nach Indien, aber bis zum amerikanischen Kontinent.

Der israelische Autor Yuval Noah Hariri beantwortet die Frage, warum gerade die Europäer in alle Winkel der Erde vorstießen, ökonomisch profitierten und ihren Lebensstil verbreiten konnten, in seinem Bestseller Sapiens so: "Die Technologie wurde erst im 19. und 20. Jahrhundert zum entscheidenden Faktor. Zuvor lag der Schlüssel darin, dass bei den Expeditionen die Wissenschafter, die auf der Suche nach neuen Pflanzen waren, mit Seefahrern, die neue Territorien erobern wollten, eines gemeinsam hatten: Beide gaben zu, dass sie zu wenig wussten." Zunächst die Neugierde und dann die Verbindung zwischen Wissenschaft und Kapitalismus haben Europa so stark gemacht. Wobei die Gräueltaten, die die Eroberer von den Azteken bis zu den Tasmanen verübt haben, leider auch zum europäischen Erbe gehören. Aber das hat unser Kontinent durch den 2. Weltkrieg hoffentlich gelernt: Militärische Lösungen, die in der Menschheitsgeschichte immer Teil der Politik waren, sind keine Option mehr.

Die Geschichte Europas ist blutig. Krieg folgte auf Krieg, es ging um Macht, Landgewinne oder Religionen. Und bei Adolf Hitler um den Wahnsinn, die Juden, die er für alles Unheil verantwortlich machte, auszurotten. Dieser Kontinent hat in alle Abgründe geblickt. Und dann wieder größte wissenschaftliche und künstlerische Leistungen hervorgebracht und auch geschickt vermarktet.

Gelingt es den Europäern, die Stärken dieses ebenso kleinen wie faszinierenden Kontinents zu bündeln? Dann wird die ganze Welt profitieren. Wenn nicht, werden wir leiden und die Welt ärmer. Europa ist an den Rand gerückt, hoffentlich verstehen wir den Weckruf.

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