Stalin und der "alte Verräter" Renner
Fürs Erste wussten die sowjetischen Offiziere im niederösterreichischen Köttlach nicht, was sie mit dem alten Herren anfangen sollten, der da bei ihnen vorstellig wurde. Es war der 3. April 1945, an allen Ecken der allmählich in sich zusammenbrechenden "Ostmark" wurde noch gekämpft, selbst Wien war noch großteils in der Hand der Wehrmacht. Doch der unerwartete Besucher bot sich an, "mit Rat und Tat bei der Herstellung des demokratischen Regimes zu helfen", immerhin sei er ehemaliger "Premierminister" und "letzter Präsident des österreichischen Parlaments".
"Renner vertrauen"
Umgehend wurden die Pläne des Generalsekretärs in die Steiermark übermittelt: Diesem Renner sei "Vertrauen zu erweisen".
"Kein Kommunist"
Und Karl Renner gab dem Diktator ausreichend Grund, um gerade ihn genau dafür geeignet zu halten. Den wohl schlagendsten und authentischsten Beweis dafür liefert der Briefwechsel zwischen dem Österreicher und Stalin, der sich in den kommenden Wochen und Monaten des Jahres 1945 entwickeln sollte.
"Stalin wollte keinen Kommunisten an der politischen Spitze in Österreich", analysiert Karner Stalins nur auf den ersten Blick paradoxe Pläne. Denn obwohl diese Kommunisten in Moskau und quasi auf dem Schoß des Diktators saßen und sich diesem als die Garanten für ein linientreues Österreich anboten, war dem klar, dass man mit diesen Ideologen in Österreich keine Mehrheiten gewinnen konnte.
Und Renner? "Der hatte ja schon viele politische Verrenkungen gemacht", meint der Historiker, "jetzt kam eben die nächste."
Und diese politische Verrenkung des Mannes, der ein paar Jahre zuvor den Anschluss an Nazi-Deutschland befürwortet hatte, wird schon in seinem ersten handgeschriebenen Brief, Ende April 45, an Stalin deutlich.
In Moskau hatte man ja inzwischen ernsthafte Zweifel, ob dieser Sozialdemokrat auch tatsächlich verlässlich sei. Doch Renner erwies sich als gewiefter Taktiker und Formulierer.
Sozialismus als Zukunft
Dass Renner unter diesem Sozialismus etwas anderes verstand als Stalin, das sollte der Diktator erst in den kommenden Monaten realisieren. Bei den ersten Wahlen im befreiten Österreich verschwanden die Kommunisten in der politischen Bedeutungslosigkeit. Sieger wurde – zumindest für Moskau völlig unerwartet – die ÖVP. Die Idee eines Sozialismus nach strenger marxistischer Vorstellung war damit vom Tisch.
In Österreich sollte Stalin von da an aber nur noch der ÖVP vertrauen. Die sei zwar ideologisch der Klassenfeind, habe aber zumindest Handschlagqualitäten.
Den betagten Renner kümmerte der Ärger des Diktators nicht mehr allzu sehr, der Briefwechsel war ohnehin sein letzter politischer Coup. Ein Geniestreich? Für den Historiker wäre das etwas zu hoch angesetzt:"Renner hatte einfach diese perfekte Mischung aus politischer Eitelkeit und Verantwortungsbewusstsein – und er war in diesen Tagen der richtige Mann, zur richtigen Zeit am richtigen Ort."
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