KURIER: Sie sind 1940 geboren. Seit bald zehn Monaten leben wir mit der Pandemie. Die Corona-Maßnahmen haben für manche Folgen wie ein Krieg. Ist der Vergleich zulässig?
Nein. Was wir jetzt erleben, ist unbestritten eine sehr schwierige Situation, die unseren Alltag völlig außer Tritt bringt. Aber Krieg ist etwas völlig anderes. Im Krieg sind Zivilpersonen der Situation völlig hilflos ausgeliefert, ihr Handlungsspielraum, etwas daran zu ändern, ist sehr begrenzt. Bomben und Straßenkämpfen entkommt man nicht. Bei uns genügt es, relativ einfach Vorgaben einzuhalten, um das eigene Risiko und das der anderen zu minimieren. Maske tragen, Abstand halten, Händewaschen mag lästig sein, ist aber zumutbar. Das heißt, wir sind nicht der Spielball äußerer Umstände, sondern trotz allem handlungsfähig.
Laut Umfragen leiden Jugendliche besonders unter den Corona-Maßnahmen, gleichzeitig werden sie ob ihres Verhaltens für die steigenden Infektionszahlen mitverantwortlich gemacht. Welchen Eindruck macht die Jugend auf Sie?
Junge Menschen haben es sicher sehr schwer. Ihr Leben ist auf den Kopf gestellt, genau wie das der Erwachsenen. Ihnen fehlt aber aufgrund der Lebenserfahrung die Resilienz, damit gut umzugehen. Außerdem ist Corona mit allen damit verbundenen Konsequenzen für viele von ihnen das Schlimmste, was sie je erlebt haben. Sie lebten bisher in einer relativ sicheren Welt, in stabilen Verhältnissen. Kleine Kinder verstehen die Welt jetzt nicht mehr – plötzlich sind sie eine Gefahr für die Großeltern, dürfen ihre Freunde nicht so wie sonst treffen, ihr Lebensradius beschränkt sich auf das eigene Zuhause. Sie haben Angst, weil sie nicht wissen, was da passiert außer, dass es gefährlich ist. Jugendliche verstehen zwar intellektuell, was die Corona-Pandemie bedeutet. Sie sind aber mitten in einer Phase, wo sie sich selbst erst finden müssen. Und auf einmal sind die ganzen Rituale dazu verboten, weggehen, irgendwo mit Freunden herumhängen, feiern, die Welt und das Leben ausprobieren.
Geboren am 22. 11. 1940 in Böheimkirchen ist sie erst in der Privatwirtschaft tätig, ehe sie 1983 als Gemeinderätin in Wien politisch tätig wird. Ab 1986 ist sie neun Jahre lang Nationalratsabgeordnete und u. a. Generalsekretärin der ÖVP (1991-1995), ab 1995 sechs Jahre lang Volksanwältin, ehe sie wieder in den Wiener Landtag wechselt. Seit 2016 ist sie zudem Präsidentin des VP-Seniorenbundes, seit 2019 stv. Vorsitzende der Alterssicherungskommission. Ingrid Korosec ist Mutter zweier Söhne und dreifache Großmutter.
Jetzt gelten auf einmal noch mehr Regeln als vorher. Dazu kommen aber auch ganz reale Zukunftsängste um Jobs und Einkommen. In einem Lebensabschnitt, wo Halt und Orientierung eigentlich besonders wichtig sind, fällt alles in sich zusammen. Deshalb halte ich es wirklich für wichtig, den Jungen eine Perspektive zu geben, die Gewissheit, dass alles wieder gut wird, anders als vorher vielleicht, aber wieder gut. Das ist eine Lehre aus der Nachkriegszeit – Hoffnung geben.
Sie sind Mutter zweier Söhne, haben drei Enkelkinder: Wie halten Sie in Zeiten des Social Distancings Kontakt zu Ihrer Familie?
Ich bin sehr dankbar, dass ich mir durch den Beruf digitale Grundkenntnisse aneignen musste. Ich bin darin zwar weniger gut, als ich sein sollte, aber mit Smartphone und WhatsApp kann ich umgehen. Meine Familie hält mich auf dem Laufenden, was sich in ihrem Leben so tut. Außerdem leben einige in Wien, da gab es vor dem Lockdown doch immer wieder persönlichen Kontakt.
Was geht Ihnen seit der Pandemie am meisten ab – beruflich wie privat?
Mir fehlen beruflich und privat vor allem die spontanen Kontakte mit den Menschen. Ein Zoom Meeting ist zwar nett, muss aber genau organisiert werden. Beruflich ist es natürlich schwer, da Corona alles dominiert. Es gibt so viele Themen, die wichtig sind, Digitalisierung, Pflegereform, neues Altersbild. Das liegt jetzt teilweise auf Eis. Es fällt mir trotzdem schwer, weil wir für die Zukunft auch abseits der Pandemie Strategien entwickeln müssen. Privat geht mir auch besonders der Sport ab. Ich gehe normalerweise regelmäßig ins Fitness-Studio und trainiere täglich. Wenn ich mich nicht ausreichend bewege, schlägt sich das bei mir auf die Psyche. Spaziergehen oder zuhause trainieren ersetzt das nicht wirklich. Außerdem fehlt mir, dass man nicht mehr spontan irgendwo einen Kaffee trinken kann.
Per definitionem zählen Sie ob Ihres Alters zur Risikogruppe, doch fühlen Sie sich auch zugehörig?
Ich bin körperlich ein sehr robuster Mensch und tue auch alles, um fit zu bleiben. Ehrlich gesagt, fühle ich mich daher nicht wirklich als Teil der Risikogruppe, weiß aber, dass ich im Fall einer Ansteckung mit einem schwereren Verlauf rechnen muss. Daher befolge ich zu 100 % die Maßnahmen und Empfehlungen. Außerdem haben einige meiner Bekannten und Freunde Vorerkrankungen, die für sie das Risiko erhöhen. Da ist es eine Frage der Fairness und der Zuneigung, nichts zu tun, was sie gefährdet.
Generalsekretärin, Volksanwältin, Nationalrats- und Gemeinderätin, Seniorenbund-Präsidentin. Rückblickend betrachtet: Wo haben Sie sich am meisten und Ihrer Meinung nachhaltig eingebracht?
Überall, aber überall anders. Ich habe, glaube ich zumindest, in jedem Amt Spuren hinterlassen. Allein schon deshalb, weil ich in vielen Positionen die erste Frau in der ÖVP war, die z. B. das Generalsekretariat oder die Stelle als Volksanwältin übernahm. Ich erfand mich mit jedem Amt neu, lernte dazu. Gleichzeitig konnte ich immer meine Vorerfahrungen aus anderen Positionen sehr gut brauchen. Für die Generalsekretärin standen Management, die Entwicklung neuer Strategien und das Zusammenhalten der unterschiedlichen Interessen innerhalb der Partei im Vordergrund.
Für die Volksanwältin ging es darum, Menschen ganz konkret zu helfen, sich um praktische Lösungen zu bemühen. Als Gemeinde- und Nationalrätin aber auch als Seniorenbund-Präsidentin steht man irgendwo dazwischen. Da geht es um strategische Entscheidungen, die sich ganz direkt auf das Leben der Menschen in Österreich auswirken. Eine Entscheidung ist immer abstrakt, ihre Konsequenzen sind aber konkret. Um das richtig hinzubekommen, braucht es Erfahrung und Mitgefühl. Erfahrung, in dem was man tut, und Mitgefühl für die Menschen, die es betrifft.
Die Hälfte Ihres Lebens, 37 Jahre, haben Sie in der Politik gearbeitet und tun es noch. Gab es je einen Moment, an dem Sie an einen Ausstieg oder ans Aufhören gedacht haben?
Nein, sonst säße ich nicht mehr hier. Manchmal war es hart und lief nicht so, wie ich wollte. Aber ich bin stur, hartnäckig und ergebnisorientiert.
Hört man sich quer durch die Parteien um, so gelten Sie als Kämpferin, insbesondere, wenn es um Ungerechtigkeiten jedweder Art und um Frauenrechte geht. Sehen Sie sich als Kämpferin?
Ja, schon. Ich war immer eine Frau, der ihre Selbstständigkeit wichtig war, die beruflich etwas erreichen wollte. Das war in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht so üblich. Sich hier durchzusetzen, war ein steiniger Weg. Dabei hatte ich einen Ehemann, der das akzeptierte. Aber es gab wahnsinnig viele gesellschaftliche und auch gesetzliche Hürden. Eine Frau durfte bis 1975 ohne Zustimmung ihres Mannes nicht arbeiten gehen. Das Gleichbehandlungsgesetz gibt es erst seit 1993. Das machte das Leben der Frauen zu einem ständigen Kampf, und jeder Erfolg war hart erarbeitet. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann auf meinen Beitrag für die Besserstellung der Frauen in Österreich.
Johanna Dohnal bezeichneten Sie dereinst als "Synonym für Emanzipation". Frauenministerin Susanne Raab will sich nicht als Feministin bezeichnen. Ist Ingrid Korosec eine Feministin?
Ja, ist sie. Eine ganz pragmatische. Mein Feminismus beruht mehr auf Hausverstand als auf theoretischem Unterbau. Für die gleiche Arbeit muss es gleiche Bezahlung geben. Die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen, daher steht ihnen auch die Hälfte der guten Jobs, Ämter und Spitzenpositionen zu. Und ein Gen, das besonders zum Abwaschen oder Erziehen der Kinder befähigt, wurde bisher auch noch nicht gefunden. Rückblickend wird Johanna Dohnal wohl als eine der zentralen Figuren der Gleichberechtigung in Österreich gelten müssen, gemeinsam mit der ersten weiblichen Abgeordneten im Nationalrat oder Grete Rehor als erster Ministerin. Allein dass sie das Amt der Frauenministerin durchsetzte, war eine große Leistung. Sie war direkt, unbeirrbar und menschlich. Das verband uns trotz sehr unterschiedlicher politischer Ansichten.
Noch immer verdienen Frauen weniger als Männer, gibt es eine zu erfüllende Quote für Frauen in Aufsichtsräten. Wird sich das jemals ändern und die gläserne Decke durchbrochen?
Es muss sich ändern. Natürlich geht es mir viel zu langsam. Manchmal habe ich das Gefühl, seit Jahrzehnten dasselbe zu sagen und zu fordern. Auch mich grüßt jeden Tag das Murmeltier. Aber es geht in kleinen Schritten voran. Der Politik kommt hier eine große Vorbildwirkung zu. Brigitte Bierlein war nur kurz Kanzlerin. Trotzdem setzte ihre Bestellung ein gewaltiges Signal. Ich setze hier meine Hoffnung, so seltsam es vielleicht klingt, auf die Reform des Pflegesystems. Hier geht es um typisch "weibliche" Arbeit mit allen damit verbundenen Konsequenzen – schlechte Bezahlung, schlechte Rahmenbedingungen, geringe Anerkennung. Corona tat hier schon das Seine: Auf einmal ist weibliche Arbeit anerkannt und gilt als unentbehrlich. Gelingt die Reform, stellt sie in einem sehr zentralen Bereich die gewohnte Welt auf den Kopf.
Gestatten Sie noch drei kurze Fragen zum Schluss. Welcher ÖVP-Chef hat Sie nachhaltig beeindruckt – positiv wie negativ?
Eine meiner Stärken ist, dass ich mich lieber mit der Gegenwart und der Zukunft beschäftige als mit der Vergangenheit! Und wer mich kennt, weiß, dass ich mich auch weniger mit meinen Parteikolleginnen und -kollegen auseinandergesetzt habe als mit den Themen und Bürgeranliegen. Man könnte auch sagen: Ich hatte immer eine kritische Distanz zur eigenen Blase. Ich habe neun Parteichefs begleitet, und Sebastian Kurz ist der zehnte Parteichef.
Er hat das politische und menschliche G'spür, das ein erfolgreicher Politiker braucht. Er erkennt die Themenlage, und er hat für sein junges Lebensalter schon ein recht hohes politisches Alter. Das wäre per se schon beeindruckend. Er ist mir gegenüber stets wertschätzend, ist an meiner Meinung interessiert und respektiert, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Das beeindruckt mich.
Der beste Beweggrund, um als Frau in die Politik zu gehen?
Ich kann nur jeder Frau und jedem Mann einen guten Rat geben: Politisches Engagement sollte nie aus Kalkül, Begeisterung für eine Machtposition oder aus Selbstverliebtheit entstehen! Dafür ist der Job viel zu anstrengend und hart! Die Erfahrung zeigt mir, dass die Politiker erfolgreich sind, die Visionen haben, etwas verändern wollen und die Menschen lieben! Es ist wie in jedem Beruf: 1/3 Talent, 1/3 Disziplin, 1/3 Liebe. Denn alles, was man gern macht, macht man auch gut! Mein politisches Leben lang habe ich mich immer für die Schwächeren eingesetzt. Weil es mir ein echtes Anliegen war und nach wie vor ist!
Was ist also ein guter Beweggrund in die Politik zu gehen?
Etwas ändern zu können und eine wichtige Branche weiblich zu "unterwandern", wenn Sie so wollen.
Sie sind für Ihren farbenfrohen, modischen Kleidungsstil bekannt. Gibt es einen Modetrend, den Sie in den vergangenen Jahrzehnten ausgelassen haben?
Ich kleide mich für mich und nicht für andere. Ich will mich wohlfühlen. Was die aktuelle Mode jeweils vorgibt, ist für mich nicht ausschlaggebend. Es freut mich natürlich, wenn es den anderen auch gefällt. Meine Kleidung ist auch ein bisschen ein politisches Statement: Politik – wie das Leben – ist nicht grau, eintönig und männlich, sondern bunt, vielfältig und weiblich. In einem beruflichen Umfeld, das geprägt war und ist teilweise von "grauen Anzügen", bin ich ganz bewusst ein "Farbtupfer". Und das möchte ich auch allen jungen Frauen weitergeben: seid mutig und bunt!
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