Wir müssen die Pflege komplett neu denken. Angemessene Gehälter spielen sicher eine wichtige Rolle, aber auch verbesserte Arbeitsbedingungen. Die Betreuerinnen stehen unter großem Druck – psychisch, körperlich und zeitlich. Im Moment funktioniert die Versorgung betreuungsbedürftiger Menschen, weil Familien und Freunde oft die Hauptlast tragen, oder Frauen aus Rumänien und der Slowakei zu sehr günstigen Tarifen arbeiten. Das wird aus demographischen und ökonomischen Gründen nicht mehr lange gut gehen. Wir müssen das Betreuungssystem komplett umstellen.
Was meinen Sie mit „komplett umstellen“?
Die Dänen machen es ziemlich gut: Sie setzen frühzeitig stark auf Prävention, damit die Menschen dann im Alter möglichst lange gesund und selbstständig bleiben. Sie nehmen auch viel mehr Geld für Rehabilitation in die Hand. „Hilfe zur Selbsthilfe“ steht dort im Vordergrund. Gesundheit und Pflege wird dort als Einheit verstanden und aus einem Topf finanziert. In Österreich sind die Bereiche getrennt, und die Versuchung, Kosten hin und her zu schieben, ist dementsprechend groß.
Das Tragen von Masken, das Fernbleiben von der Familie, das Nicht-Umgehen können mit digitalen Technologien wie bargeldloser Bezahlung hat vielen Pensionisten das Leben zudem erschwert. Wie viel Digitalisierung ist einem Pensionisten zumutbar? Wo ist - Ihrer Erfahrung nach, nach Gesprächen mit ihren Mitgliedern - die Grenze?
Zwei Drittel der Über 65-Jährigen besitzen ein Smartphone und nutzen auch das Internet. Das Erlernen digitaler Kompetenzen ist älteren Menschen nicht nur zumutbar, sondern unbedingt nötig. In absehbarer Zukunft wird die Digitalisierung bei Mobilität, Medizin, Betreuung und Pflege an Bedeutung gewinnen. Außerdem ist der Alltag bereits sehr digital, denken Sie an Online Banking, Einparkhilfen, diverse Kommunikationstechnologien. Die Digitalisierung kann viel dazu beitragen, dass wir im Alter selbstständig bleiben und am Leben teilnehmen können.
Die geäußerte Sorge um Datensicherheit teilen Sie – nicht?
Natürlich kommen da große Mengen sehr sensibler Daten in Umlauf. Von der Regierung wünsche ich mir, dass bald die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, die Sicherheit und Transparenz garantieren. Estland zum Beispiel ist uns hier meilenweit voraus. Wie die Esten es machen – aber auch aus den Fehlern, die dort passierten – können wir eine Menge lernen.
Estland ist Spitzenreiter im Bereich Digitalisierung und Digital Health. Das Land setzt seit seiner Unabhängigkeit 1991 konsequent auf Digitalisierung. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte war die Vereinfachung von Behördengängen und der leichtere Zugang zur Verwaltung eine Notwendigkeit.
Haben Sie persönlich die Befürchtung, dass bei einer sogenannten zweiten Welle die Risikogruppe der Älteren in Pflege- oder Seniorenheimen besonders von der Gesellschaft ausgeschlossen wird?
Diese Frage ist extrem schwierig, und ich kann sie für mich selbst kaum befriedigend beantworten. Wir wissen alle, wie sehr die Menschen in den Heimen unter der Isolation und Einsamkeit litten. Angehörige erzählten mir von herzzerreißenden Szenen, die sich abspielten. Besonders Menschen mit Demenzerkrankung verstanden nicht, warum sie nicht mehr besucht wurden. Gerade für sie sind neue Kommunikationstechnologien schwierig. Außerdem können sie den persönlichen Kontakt nicht ersetzen. Zu einer zweiten Welle kommt es, wenn überhaupt, vermutlich erst im Herbst. Mir wäre am liebsten, wenn vom Gesundheitsminister Empfehlungen gegeben würden, damit nicht jedes Heim sich einen eigenen Weg suchen muss. Das ist für alle Beteiligten anstrengend und verwirrend.
Sieht man sich aber die Erkrankungs- und Sterberate unter Heimbewohnern anderen Ländern an, schneidet Österreich gut ab: in Deutschland starb teilweise ein Fünftel der Menschen in den Heimen an COVID 19, in Schweden handelt es sich bei jedem zweiten Tote um einen Heimbewohner, in Belgien sind es 42%, in Italien und Spanien über 50%. Aber der Erfolg geht bei uns auf Kosten der Grundrechte, in die massiv eingegriffen wurde.
Was macht der Politikerin Ingrid Korosec bei Corona besonders zu schaffen?
Wir strengen uns seit Jahren sehr an, ein neues Bild der Alten zu vermitteln, schließlich geht es um die Positionierung und das Selbstverständnis einer sehr großen gesellschaftlichen Gruppe. Auf alt, klapprig und krank reduziert zu werden, entspricht einfach nicht der Realität. Mit 65 wird man nicht automatisch zum Problemfall und Kostenfaktor für die Gesellschaft. Corona warf die Seniorenpolitik in diesem Punkt um Jahre zurück. Statt aktiv, erfahren, lebensfroh heißt es auf einmal wieder schwach, entmündigt und teuer. Dabei trifft das negative Altersbild auf die große Mehrheit der über 65-Jährigen gar nicht zu.
Könnte aus dem Generationenvertrag ein Generationenkonflikt werden?
Die Diskussion über den Generationenvertrag fokussiert fast ausschließlich auf die Kosten. Dass die meisten von uns übrigens nicht über das Pensionsalter hinaus arbeiten, hängt auch mit der wenig altersgerechten Arbeitswelt zusammen. Da hapert es an den arbeitspolitischen Rahmenbedingungen. Damit der Generationenvertrag hält, muss die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Älteren für die Gesellschaft für die Jüngeren wieder erfahrbar und stärker sichtbar werden.
Wie wollen Sie das sichtbar machen?
Wir Ältere müssen selbstverständlich unseren Teil dafür tun, dass Corona nicht den Generationenkonflikt befeuert. Ich höre von Millennials oft: „Wegen der Alten muss jetzt Geld in die Wirtschaft gepumpt werden, das dann für den Klimaschutz fehlt. Dabei habt ihr die Ressourcen verschwendet und die Welt kaputt gemacht.“ Ich verstehe die Zukunftsängste der Jungen wirklich gut und teile ihre Meinung, dass wir eine andere Normalität brauchen. Mir gefällt deshalb der Vorschlag des deutschen Klimaforschers Hans Joachim Schellnhuber, einen „Klima-Corona-Vertrag“ zu schließen, extrem gut. Seine wechselseitige Solidarität könnte richtungsweisend sein: Wer achtlos Viren weitergibt, gefährdet auch das Leben der Großeltern, wer weiter achtlos Co2- ausstößt, jenes der Enkel. Die Jungen haben das Projekt Corona mitgetragen, wir älteren akzeptieren und unterstützen dafür die nötigen Veränderungen unseres Lebens, um die Klimakrise zu bewältigen.
Kommentare