Bibelforscher: "Jesus und Paulus waren ja Juden"
Am Dienstag wurde die Jahrestagung der Gesellschaft für Neutestamentliche Studien in Wien eröffnet. Rund 350 Bibelwissenschafter aus aller Welt diskutieren bis zum Wochenende die neuesten Forschungsergebnisse zu Fragen der Interpretation des Neuen Testaments. Gastgeber sind die Katholisch- und die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien. Organisiert wurde die Veranstaltung von den beiden Neutestamentlern Markus Tiwald (katholisch) und Markus Öhler (evangelisch).
KURIER: Welche Fragen sind es, die heute Bibelwissenschafter vorrangig beschäftigen?
Markus Tiwald: Die Hauptfrage ist der jüdisch-christliche Dialog, die Auseinandersetzung mit unseren jüdischen Wurzeln. Jesus und Paulus waren ja Juden. Das Judentum zur Zeit Jesu war das Frühjudentum, aus dem sich dann um 200 n. Chr. langsam das rabbinische Judentum und das beginnende Christentum heraus entwickelt haben. Das Verbindende ist also viel stärker als das Trennende.
Und dabei wird klar: Man kann Bibelwissenschaft heute nur international und interdisziplinär betreiben. Wir arbeiten also mit der Judaistik zusammen – und heute sind die Jesusdeutungen auch nicht mehr ausschließlich konfessionell gebunden im Sinne eines „katholischen“ oder eines „protestantischen“ Jesus; sondern in der Forschung wird das durchgehend historisch-kritisch bearbeitet. Ungeachtet dessen gibt es natürlich konfessionelle Unterschiede: Wenn ich sage, Jesus ist die zweite göttliche Person, dann ist das natürlich eine christliche Perspektive: ein berechtigtes, aber nicht das einzige Deutungsmuster.
Jenseits des innerreligiösen Raumes: Worin besteht die Relevanz der Bibelwissenschaft?
Wenn ich zurückgehe in die Literaturgeschichte: Jemand wie Gotthold Ephraim Lessing ist nicht nur ein begnadeter Dichter, sondern zunächst einmal ein protestantisch-liberaler Theologe gewesen, der versucht hat, starre dogmatische Konzepte in seiner eigenen Kirche aufzubrechen. Von ihm stammt die These vom „garstigen Graben“ zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens. In der modernen Bibelwissenschaft haben wir es geschafft, diesen Graben zwar nicht völlig zu überbrücken, aber doch über Jesus als Person der Historie im Großen und Ganzen Einigkeit herzustellen. Und es herrscht auch Einigkeit, dass die Glaubenssätze über Jesus, wie sie sich im Christentum entwickelt haben, jüdische Wurzeln haben. Zur Zeit der Bibel war vieles noch in einer metaphorischen Fluidität: „Sohn Gottes“ etwa konnte sehr viel heißen im Judentum der damaligen Zeit.
Sehen Sie auch Anknüpfungspunkte dieser Themen zu den Fragen, die heute im säkularen Bereich auf der Agenda stehen?
Es geht uns hier um beides: um wertneutrale Religionsforschung, aber auch um gelebte Religion. Letztere hat noch eine andere Verve, ein anderes Commitment – und wir haben es ja auch mit gelebter Religion zu tun. Religionen tragen nach wie vor dazu bei, dass Menschen Sinnstiftung, Halt im Leben erfahren.
In einem US-Bundesstaat wurde die Bibel wegen angeblich anstößiger Inhalte von den Schulen verbannt. Ist die biblische Sprache mit ihren teils drastischen Bildern und scharfen Worten heute noch vermittel- oder auch zumutbar?
Wir werden heute mit allem konfrontiert, was es nur gibt. Kinder finden heute im Netz jede Menge an problematischen Inhalten. Aber das ist eben unsere Realität. So gesehen könnte man sagen, es ist ein gutes Zeichen, dass die Bibel alle Höhen und Tiefen, alle menschlichen Abgründe abbildet. Sie ist eben aus der Lebensrealität der Menschen herausgewachsen.
Müsste man manche biblischen Stellen, etwa für den liturgischen Gebrauch, entschärfen?
Es ist interessant, wie schnell sich Sprache ändert. Mein Lehrer hat einmal gesagt, Karl Kraus kann man heute eigentlich nicht mehr lesen. Es braucht also Vermittlungsarbeit nicht nur bei der Bibel. Wobei Übersetzungen, Übertragungen in eine „heutige“ Sprache insofern problematisch sind, weil die „heutige“ Sprache sehr schnell wieder „gestrig“ wird. Die Bibel ist letztlich ein historisches Dokument – mit dem muss ich mich auseinandersetzen, das muss ich erklären.
Wie sehen Sie generell den Stellenwert der Theologie an einer säkularen Universität?
Ich bin sehr dafür, dass es eine konfessionsgebundene Theologie an unseren staatlichen Universitäten gibt. Das ist auch eine Art Gütesiegel, dass unsere Theologie, die ja dann auch an den Schulen unterrichtet wird, eine gute und gedeihliche Theologie ist. Es ist auch ein Desiderat, dass beispielsweise islamische Religionslehrer bei uns im Land, nach unseren Qualitätsstandards ausgebildet werden. Natürlich gibt es da – auch im katholischen Bereich – ein Spannungsverhältnis: zwischen religiöser Lehre und staatlichen Kriterien; aber es ist eine fruchtbare Spannung. Und im besten Fall profitieren beide Seiten davon. Der Staat kann dabei lernen, dass Religion eben nicht nur Privatsache ist, sondern eine wesentliche Funktion für den Aufbau einer Gesellschaft hat. Umgekehrt übernehmen die Kirchen Qualitätskriterien der säkularen Forschung.
Wer studiert heute noch Theologie?
Wir erleben gerade, dass Wien zu einem Zentrum internationaler Theologie wird. An unserer Doctoral School kommt ein Drittel der Dissertanten aus dem globalen Süden, ein Drittel aus dem nichtösterreichischen EU-Ausland und ein Drittel aus Österreich. Unser Ziel wäre, dass Wien so etwas wie die theologische Feinkostabteilung werden könnte. Generell staune ich immer, was für fähige und engagierte, auch vernünftige und „normale“ Leute Theologie studieren. Es ist ein Klischee, dass nur bestimmte weltfremde Menschen Theologie studieren. In der Theologie ist alles drinnen: die ganze Welt wie in einem Brennglas; sie schürft an den Fundamenten menschlicher Sinnsuche. Das ist etwas, das im Menschen zutiefst verankert ist.
Markus Tiwald
geb. 1966, katholischer Priester, Professor für Neues Testament am Institut für Bibelwissenschaft der Uni Wien; zuletzt erschienen: „Frühjudentum und beginnendes Christentum. Gemeinsame Wurzeln und das Parting of the Ways“; 2005 bis 2009 Kolumnist für den Sonntags-KURIER.
SNTS
Studiorum Novi Testamenti Societas / Society for New Testament Studies; 1938 gegründet; die rund 350 Mitglieder treffen sich jährlich zu einer Tagung, heuer findet diese in Wien statt.
Die heiligen Schriften der Religionen
Wer hat die Bibel geschrieben? Und wer den Koran? Zunächst einmal: der Stellenwert des Koran im Islam ist ein anderer als jener der Bibel im Christentum. Das christliche Pendant zum Koran ist eher die Person Jesus Christus. Sie gilt im Christentum als unmittelbare Offenbarung Gottes – also die Art und Weise, wie Gott für die Menschen konkret erfahrbar wurde/wird. In diesem Sinne wird im Islam auch der Koran verstanden: Der Überlieferung nach hat der Erzengel Gabriel Mohammed aufgetragen, zu rezitieren, was zuvor in sein Herz geschrieben wurde. Er soll die Offenbarungen zwischen dem Jahr 610 und seinem Tod im Jahr 632 empfangen haben – nach seinem Tod wurden sie von seinen Anhängern niedergeschrieben.
Die Bibel – bestehend aus dem „Alten“ und dem „Neuen“ Testament – ist in einem Zeitraum von etwa 1.000 Jahren entstanden. Das (weit umfangreichere) Alte Testament enthält etwa vor allem die auf verschiedene „Bücher“ aufgeteilte Geschichte des Volkes Israel, die Psalmen sowie die Texte der Propheten (am bekanntesten: Jesaja, Jeremia). Die einzelnen Bücher sind allerdings nicht jeweils einem Autor zuordenbar, sondern fassen verschiedene Erzählstränge zusammen.
Das Neue Testament umfasst die vier Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes), die Lukas zugeschriebene Apostelgeschichte (über die Zeit des Urchristentums), die Briefe von Paulus (und anderen) sowie die Offenbarung (das deutsche Wort für Apokalypse, welches im Deutschen eine völlig andere Bedeutung angenommen hat), welche in sehr plastischen (und teils drastischen) Bildern die Endzeit (nach christlichem Glauben die Vollendung der Geschichte) schildert.
Das Alte Testament teilt das Christentum im Wesentliche mit dem Judentum. Aus jüdischer Sicht ist ja der in den biblischen Schriften verheißene Messias noch nicht gekommen. Das Neue Testament hingegen bezieht sich immer wieder auf das Alte, um darauf hinzuweisen, dass dessen Verheißungen in der Person Jesu erfüllt seien. Die Bezeichnung der hebräischen Bibel lautet Tanach – die Anordnung der Bücher unterscheidet sich von jener in der christlichen Bibel.
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