Irmgard Griss: "Corona spaltet die Gesellschaft"
Für Irmgard Griss (73) existierte keine Altersgrenze. Mehr noch: Als sie als OGH-Präsidentin in Pension ging, startete die Grazerin nochmals so richtig durch. Es begann 2014 als Vorsitzende des Hypo-Untersuchungsausschuss. Ein Jahr später ging sie als unabhängige Kandidatin in den Bundespräsidentenwahlkampf. Bis Spätherbst 2019 war sie Neos-Abgeordnete – übrigens war die Grazerin die älteste Mandatarin im Parlament.
Im KURIER-Interview analysiert Griss, ob die Corona-Krise den Generationenvertrag verändert und erzählt, warum sie sich plötzlich alt fühlte. Außerdem fordert die Ex-Höchstrichterin Eilverfahren für den Verfassungsgerichtshof.
KURIER: Frau Griss, was haben Sie während der Quarantäne am meisten vermisst?
Irmgard Griss: In den sechs Wochen war ich nie in Wien, sondern nur in Graz. Dieser Wechsel zwischen Wien und Graz, diese unterschiedlichen Welten, ist etwas, was mir sehr fehlt. Insgesamt war es aber keine schlechte Zeit für mich, weil ich das Glück habe, dass wir im Grünen wohnen.
Corona gilt als eine Art "Alten-Seuche“. Die ältere Generation erlebt daher eine viel strengere Isolation als die jüngeren Menschen. Wird der Generationenvertrag derzeit neu definiert?
Momentan ist es eine Belastungsprobe für den Generationenvertrag. Es gibt genug Äußerungen, dass sich die älteren Menschen aus Solidarität zu den Jüngeren zurücknehmen müssen. Manche verlangen sogar rechtliche Einschränkungen für die Älteren.
Würde das nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung widersprechen?
Ja, wir haben ganz strenge Bestimmungen zur Sicherheit der persönlichen Freiheit. Es gibt die Möglichkeit der Einschränkung nur, wenn Grund zur Annahme besteht, dass jemand eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten ist. Das sind die alten Menschen nicht – sie sollen ja geschützt werden. Also, eigene Quarantäne-Bestimmungen für die ältere Generation sehe ich rechtlich nicht. Und es sind ja nicht nur Ältere betroffen: 15 Prozent der Intensivstationspatienten in Italien waren Jüngere.
Klingt es zynisch für Sie, wenn manche sagen, dass das Durchschnittsalter der Toten bei 80 Jahren liegt, was über der durchschnittlichen Lebenserwartung ist? Stimmt die Verhältnismäßigkeit bei den Maßnahmen nicht?
Andreas Sönnichsen, der Leiter der Allgemeinmedizin an der MedUni Wien, hat das ja so ähnlich formuliert. Ich weiß nicht, ob es zynisch ist, es ist ein Faktum. Wenn man sich die Todeszahlen anschaut, dann liegen die derzeit nicht höher als im Vorjahr. Es ist gut, wenn die Menschen die ihrer Konstitution entsprechende natürliche Lebenserwartung erreichen können. Aber es macht in der Bewertung schon einen Unterschied, ob es eine Krankheit ist, die die Jungen oder die Kinder trifft oder die ältere Generation, die ihr Leben gelebt hat. Diesem Faktum muss man ins Auge sehen.
Zahlreiche Experten gehen von einer zweiten Welle aus. Würde es die Gesellschaft spalten, wenn die Jüngeren dann weiterhin arbeiten gehen und die Risikogruppen in die Isolation gehen müssen?
Auch die momentanen Maßnahmen, dass Großeltern ihre Kinder oder Enkel nicht sehen dürfen, sind eine Belastung für Familien. Corona spaltet die Gesellschaft, das kann man nicht wegdiskutieren.
Beobachten Sie bei sich selbst auch eine Veränderung?
Ich habe eine entscheidende Veränderung in meiner Eigenwahrnehmung entdeckt: Plötzlich wurde mir das Alter bewusst gemacht. Ich hatte nie ein Problem mit dem Alter, denn ich konnte alles machen, muss keine Medikamente nehmen. Durch Corona wird man plötzlich ins Kastl gesteckt: Man soll nicht mehr selbst einkaufen gehen. Es werden einem die Einkäufe abgenommen. Das ist zwar sehr nett, aber es signalisiert dir auch eine gewisse Hilfsbedürftigkeit, die eigentlich nicht existiert. Alles ist völlig konträr zu dem, wie wir bisher gelebt haben. Ich habe zwar ein gewisses Alter, trotzdem standen mir alle Möglichkeiten offen, wenn ich dazu in der Lage war. Obwohl ich jetzt nicht krank bin, darf ich plötzlich gewisse Dinge nicht mehr machen. Das ist eine gewaltige Einschränkung.
Kommen wir zur Politik: Es gibt viel Kritik an der juristischen Werthaltigkeit der Notstandserlässe der Regierung. Kanzler Kurz wischt das vom Tisch und meint, jetzt sei nicht die Zeit für „juristische Spitzfindigkeiten“. Wie sieht das die ehemalige Höchstrichterin?
Diese Bemerkung von Kurz war absolut unpassend, dass er Bedenken einfach wegwischt und dann sagt: "Regt euch nicht auf. Der Verfassungsgerichtshof kann das prüfen, aber dann gilt es ja nicht mehr.“ Ich bewerte das als bedenklich.
Warum?
Für unsere Freiheit ist ganz entscheidend, dass wir in Sicherheit leben. Persönliche Freiheit wird als Freiheit und Sicherheit definiert. Die Sicherheit wird durch das Recht gewährleistet. Für unser sicheres Zusammenleben ist eine Rechtsordnung, die klar und verständlich ist und auch eingehalten wird, wichtig. An der Klarheit und Verständlichkeit hat es bei verschiedenen Vorschriften gefehlt. Denken Sie an die ersten Fälle, wo Polizisten Menschen abgemahnt haben, weil sie auf einer Parkbank gesessen sind. Oder dass Eltern mit ihren Kindern spazieren gingen und die Eltern abgemahnt wurden, dass die Kinder schneller gehen sollen und nicht stehen bleiben dürfen, um sich die Gegend anzuschauen. Das verleitet zur Willkür, weil niemand genau wusste, was ist jetzt verboten und was nicht: Ist es verboten, wenn jemand zu mir in die Wohnung kommt oder nicht?
Und ist es das?
Das kann natürlich nicht verboten werden. Diese Unklarheit hat mich sehr gestört. Wer macht bei uns die Vorschriften? Das macht die Regierung. Was die Regierung verkündet, gilt. Es wird per Dekret regiert. Das Parlament spielt eine Nebenrolle. Das ist für eine Demokratie nicht gut. Jetzt muss man zugestehen, dass in einer Notsituation schnell Entscheidungen getroffen werden. Da kann man nicht eine sechswöchige Begutachtungsphase machen. Aber man kann Gesetze so formulieren, dass sie verstanden werden können und durch die Verfassung gedeckt sind. Dafür könnte man den Verfassungsdienst einschalten.
In Deutschland kann der Verfassungsgerichtshof Eilverfahren durchführen, um Gesetze zu prüfen. Sollten österreichische Verfassungsrichter auch dieses Recht bekommen?
Ich wäre absolut dafür, dass Eilverfahren für den österreichischen Verfassungsgerichtshof eingeführt werden. Es wird ja nicht alles aufgehoben, was die Regierung an Maßnahmen setzt. Das sieht man in Deutschland. Aber wir hätten eine andere Qualitätskontrolle. Die Gesetzesverfasser arbeiten dann auch gründlicher. Und dass der Verfassungsgerichtshof zeitnah entscheiden kann, sieht man, wenn bei den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen Streitigkeiten auftauchen, die dann der VfGH klärt.
Orten Sie bei der Regierung eine Lust, Verbote zu erlassen?
Die Lust ist auf beiden Seiten beobachtbar. Auf der einen Seite, immer mehr vorzuschreiben. Auf der anderen Seite gibt es aber viele, die die diese starke Hand lieben, weil auch viele Ängste geschürt werden. Das finde ich bemerkenswert.
Imrgard Griss (73): Die Grazerin hat zwei beeindruckende Karrieren hinter sich: Als Juristin schaffte es die zweifache Mutter von der Berufsrichterin bis zur OGH-Präsidentin Durchbruch. Im März 2014 beauftragte sie Finanzminister Michael Spindelegger mit der Leitung der Untersuchungskommission zur Hypo Alpe Adria.
Griss wurde zum Synonym für unabhängige Aufklärung. Ohne Coaching und ohne Budget kandidierte sie im Hofburg-Wahlkampf.
Am Ende verfehlte die Grazerin nur knapp die Stichwahl. Sie lag nur 2,4 Prozentpunkte hinter Alexander Van der Bellen. 2017 kandidierte sie als „Allianzpartnerin“ bei den Neos auf Platz 2 hinter Matthias Strolz. Bis Herbst 2019 war Griss Abgeordnete.
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