Kern: "Energiepreise werden so niedrig sein, dass wir uns wundern"

Kern: "Energiepreise werden so niedrig sein, dass wir uns wundern"
Doppel-Interview: Christian Kern und Othmar Karas über die Lehren aus dem Ukraine-Krieg, die Aufrüstung und warum es bei der Energiewende ums Kupfer geht.

Wie kann man im Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China bestehen? Im überparteilichen „BürgerInnen Forum Europa“ suchen Menschen wie Alt-Kanzler Christian Kern und der Vizepräsident des EU-Parlaments Othmar Karas nach Lösungen.

KURIER: Herr Karas, es gibt die These, wir hätten es uns gemütlich in der Illusion eingerichtet, dass alles in der Welt so bleiben muss, wie es ist. Stimmen Sie zu?

Othmar Karas: Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat uns überrascht. Warum? Weil seit 1945 alle politisch Handelnden in Europa an einer Vision gearbeitet haben, die von Multilateralismus und Völkerrecht getragen war. Die Hoffnung, dass sich Europa immer so weiterentwickelt, wurde zerstört. Aber man muss auch sehen, dass wir lange vor dem Krieg entschieden haben, dass Europa der erste klimaneutrale Kontinent der Welt sein soll. Dass wir also von fossilen Energieträgern auf erneuerbare Energie umstellen. Wir sehen deutlicher den je, dass Energiepolitik auch Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist. Europa wurde kalt erwischt.

Kern: "Energiepreise werden so niedrig sein, dass wir uns wundern"

Othmar Karas

Haben die Regierungschefs in den vergangenen Jahren über die richtigen Dinge diskutiert, Herr Kern?

Christian Kern: Das kann man nicht pauschal verneinen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten erlebt, dass die Politik ökonomisiert worden ist. Die Wirtschaft hatte Vorrang. Jetzt stellen wir fest, dass sich die Diskussion umkehrt, weil die Ökonomie politisiert wird und das Primat der Politik wieder zurückgekommen ist – auch mit gewalttätigen Mitteln. Ja, wir haben uns in der Illusion gewogen, dass Krieg realpolitisch keine Rolle spielt. Aber ich würde nicht sagen, wir haben uns mit den falschen Dingen beschäftigt. Innere Sicherheit, Migrationsfragen, Terrorbekämpfung: Da gab es intensive Zusammenarbeit und Diskussionen, und das alles war notwendig. Aber wir haben insgeheim akzeptiert, dass das Dach über der europäischen Verteidigungspolitik die NATO ist.

Kern: "Energiepreise werden so niedrig sein, dass wir uns wundern"

Hat sich Europa zu stark auf die NATO verlassen?

Karas: Wenn 23 Staaten der EU in der NATO sind, wenn Finnland und Schweden beitreten und Staaten wie Österreich Mitglied der NATO-Partnerschaft für den Frieden sind, dann wird der Aufbau einer Verteidigungsunion nicht losgelöst von NATO-Strukturen gehen. Woran wir arbeiten müssen, ist, dass wir innerhalb Europas kompatibler werden – in allen Bereichen. Es ist schwer bis gar nicht möglich, norddeutsche Windkraft in den Süden zu bringen. Dasselbe gilt für Gas aus norwegischen Speichern, weil Infrastruktur und Leitungen nicht kompatibel sind. In der Sicherheitspolitik ist es ähnlich: Wir haben 27 Armeen, die nur bedingt miteinander kompatibel sind.

Sehen Sie das ähnlich, Herr Kern?

Kern: Ich möchte mit einer Anekdote antworten: Ich war im März in Berlin und habe mit einem Minister gesprochen. Er hat mir erzählt, die Bundeswehr hat für einen Konflikt wie in der Ukraine Munition für drei Tage. Ja, wir haben uns in falscher Sicherheit gewogen, und uns treffen mehrere Krisen gleichzeitig: Wir müssen die Schulden, die wir aufgrund der Corona-Krise gemacht haben, bedienen; wir müssen den Klimawandel bekämpfen – auch das kostet viel Geld; und wir müssen in unsere militärische Infrastruktur deutlich großzügiger investieren und Modelle entwickeln, um unseren Wohlstand zu bewahren. Das ist eine neue Generation an Herausforderungen, die die Dimension des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg übersteigt.

Kern: "Energiepreise werden so niedrig sein, dass wir uns wundern"

Karas und Kern im KURIER-Gespräch mit Christian Böhnmer

Das klingt nach unglaublichen Anstrengungen …

Karas: Das Teuerste ist das Nichtstun. Letztlich geht um die Frage: Wie stärken wir die Demokratie und den Wirtschaftsstandort Europa? Und da gibt es in den großen Fragen nur eine Antwort: gemeinsame Zusammenarbeit. Das ist übrigens auch der Sinn und Zweck der Gründung unseres „BürgerInnen Forum Europa“. Hier diskutieren Menschen unterschiedlicher Bekenntnisse und Berufe miteinander und begeben sich in einen Ideenwettbewerb. Was bremst uns derzeit am meisten? Ein wiedergefundener Nationalismus.

Herr Kern, Sie haben von einem globalen Wirtschaftskrieg gesprochen, bei dem Europa zwischen den USA und China aufgerieben werden könnte. Wie lässt sich das vermeiden?

Kern: Wir haben 70 Jahre lang durch harte Arbeit und Innovation Wohlstand geschaffen. Das darf nicht durch Nachlässigkeit und Naivität zerstört werden. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass es dreckige Produktion gibt, bei der Menschen und Umwelt ausgebeutet werden und die sich nicht an unsere Regeln halten. Die zweite Frage lautet: Wie können wir unsere exportorientierte Industrie erhalten? Wir haben Schlüsselindustrien vernachlässigt. Wir reden über die Energiewende und haben die Situation, dass 100 Prozent der Fotovoltaik-Zellen in Asien gefertigt werden. Oder nehmen Sie Kupfer: Kupfer ist das Rückgrat der kommenden Energiewende. Wir haben kaum eigene Minen in Europa, aber Kupfer-Müll, den wir recyceln könnten. Seit Monaten kaufen clevere chinesische Konzerne den Kontinent leer. Das habe ich gemeint mit Naivität.

Reicht wirtschaftliche Kraft, oder gehört nicht militärische Stärke dazu, um Europa als Player zu etablieren?

Kern: Ich glaube, dass Europa – und insbesondere Deutschland – in China und den USA durch die wirtschaftliche Stärke enorm ernst genommen wird. Schauen Sie sich an, wie viele Menschen weltweit die Champions League oder Mozart bewegen – Europa hat auch eine kulturelle Prägekraft, die sollte man nicht unterschätzen.

Wo kommt in all dem Russland vor?

Karas: Ein Global Player wie die Europäische Union muss mit jeder Regierung eine Gesprächsbasis haben. Die Geschäftsgrundlage jedes Gesprächs, egal mit wem, ist Vertrauen. Und das ist bei Russland derzeit so nicht gegeben. Wladimir Putin hat seine eigene Bevölkerung und seine Partner verraten.

Um mit etwas Positivem auszusteigen: Wenn alles gut läuft, wie sieht Europa im Idealfall in zehn Jahren aus?

Karas: Ich glaube, demokratiepolitisch muss die EU handlungsfähiger werden, das heißt: Die Einstimmigkeit muss fallen. Im Idealfall ist Europa in zehn Jahren eine Gemeinschaft mit noch größerem Willen zur Zusammenarbeit, und viele Vorschläge des BürgerInnen Forum Europa wurden umgesetzt.

Kern: Ich halte es mit Saint-Exupéry: "Willst Du ein Boot bauen, such’ dir eine Mannschaft und lehre sie die Sehnsucht nach dem Meer.“ Ja, wir haben kurzfristig ein Problem, ein erhebliches. Aber langfristig ist dahinter ein schillernder Horizont. Ich sehe das in meiner täglichen Arbeit. Was wir in den letzten zwei Monaten an neuen Technologien und Geschäftsideen auf den Schreibtisch bekommen haben, ist sagenhaft. Krisen mobilisieren Kräfte. Glauben Sie mir: Wir werden pünktlich im Jahr 2032 Energiepreise haben, die so niedrig sind, dass wir uns denken: Was war da 2022 bloß los?

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