Zu Besuch in Indien: Wie die Atommacht auf Russlands Vormarsch reagiert
Die Sicht der EU und der USA auf den Krieg in der Ukraine ist relativ klar, der Aggressor mit Sanktionen belegt. Aber wie beurteilt man die Lage in anderen Teilen der Welt, etwa im (knapp nach China) bevölkerungsreichsten Land? Wie reagiert Indien, das gute Kontakte zu Russland hat, sich aber mit China und auch mit Pakistan im Dauerkonflikt befindet? Ist die Stabilität auch in dieser Region gefährdet?
All diese Fragen spielten eine Rolle beim Besuch von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka mit einer parlamentarischen Delegation (Bundesratspräsidentin Christine Fuchs-Schwarz, Reinhold Lopatka/ÖVP, Christoph Matznetter/SPÖ, Nikolaus Scherak/Neos) in Indien. Ein zentraler Satz, den er dabei immer wieder hörte, lautete: „Das ist euer Krieg in Europa“. Das Interview mit Wolfgang Sobotka lesen Sie hier:
Im indischen Parlament
Parlamentssitzung in Delhi, mit mehr als 30 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt und definitiv eine der smogreichsten. 543 Abgeordnete hat das Unterhaus, 900 Millionen Inder sind wahlberechtigt in dem Land mit 1,35 Milliarden Menschen – in Europa unvorstellbare Zahlen. Sobotkas Pendant, Om Birma, eröffnet die Plenarsitzung, es werden Fragen zur Tourismushilfe nach Corona gestellt und zum massiven Wachstum von Kinderarbeit aufgrund von zwei Jahre lang geschlossener Schulen. Dann betritt der Premierminister den Saal, es gibt lautstark „Modi, Modi“-Rufe, eben erst hat seine Partei, die BJP (Bharatiya Janata Party), bei Regionalwahlen in mehreren Bundesstaaten gewonnen. Seine Macht ist enorm.
Nur in einer Region hat er die Wahl verloren, in Punjab siegte ein Comedian und Schauspieler, kommt bekannt vor. Dieser heißt Bhagwan Mann, seine Partei AAP. Nach seinem Sieg trug er Blau-Gelb, was als Solidaritätsbekundung für die Ukraine empfunden wurde. Ansonsten spielt der Krieg in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle, im Parlament schon gar nicht. Wichtig war für Indien bisher vor allem, dass die 30.000 indischen Studenten aus der Ukraine ausgeflogen werden konnten.
Die Waffen aus Russland
Aber warum enthielt sich Indien im UN-Sicherheitsrat bei der Resolution gegen Russlands Einmarsch, was auch die USA irritierte? Warum übernimmt man die Moskauer Sprachregelung von einem „Sicherheitseinsatz“, obwohl man selbst immer wieder von territorialen Übergriffen bedroht ist? Warum gibt es keine klareren Signale, obwohl die Angst vor der russischen Allianz mit China groß ist?
So komplex die Lage, so einfach die Antwort: Indien ist mit Russland seit Langem eng verbunden, zwei Drittel der indischen Waffen stammen von dort oder noch aus der ehemaligen Sowjetunion. Daher pocht das offizielle Indien auf „Frieden durch Verhandlungen“, auf eine Fortsetzung der Diplomatie. Die Provokation, dass Putin am Tag des Angriffes auf die Ukraine ausgerechnet den pakistanischen Premierminister Imran Khan empfing, wurde aber verstanden. Vielleicht auch als Warnung. Ein Satz von Außenminister Subrahmanyam Jaishankar im Gespräch mit der österreichischen Delegation ist jedenfalls bezeichnend: „Russland ist ein langjähriger traditioneller politischer Partner, China ist das langjährige strategische Problem.“
Betroffen ist Indien freilich massiv vom Krieg in Europa. Das beginnt beim Sonnenblumenöl, das man in Unmengen für seine Küche braucht – zu 85 Prozent kommt es aus der Ukraine. Es geht weiter beim Öl, obwohl sich der Benzinpreis in Indien bisher nicht erhöht hat. Und es führt direkt zum Budget.
Die Sitzung im indischen Parlament in Delhi, einem runden Gebäude aus den 1920er Jahren, aus der britischen Kolonialzeit (ein neues wird gerade gebaut), ist diesem Thema gewidmet. Das neue Budget wurde bei einem Ölpreis von 70 Dollar erstellt, zuletzt war er doppelt so hoch. Was das in einem derart großen Land bedeutet, kann man kaum ermessen.
Wirtschaft ist eines der großen Themen, das auch die österreichischen Parlamentarier nach Indien führte. 150 österreichische Firmen sind bereits dort aktiv. Um ihnen und weiteren zu helfen, wurde das Honorarkonsulat in Hyderabad eröffnet.
Im größten Bundesstaat
Zwei Stunden Flug von Delhi in die Stadt mit knapp sieben Millionen Einwohnern. Den Österreichern wird der rote Teppich ausgerollt, die Seitenstraßen werden für den Konvoi gesperrt, damit er freie Fahrt zum lokalen Parlament hat, die zigtausenden Autos und Tuk Tuks, die mit Gas betriebenen Autorikschas, stehen währenddessen in kilometerlangen Staus.
Treffen mit Srinivas Reddy Parige, dem Präsidenten des Parlaments des größten indischen Bundesstaates Telangana (220 Millionen Einwohner), Austausch von Freundlichkeiten, Sobotka macht auf die Bedrohung des Krieges auf die ganze Welt aufmerksam, Bundesratspräsidentin Fuchs-Schwarz will wissen, wie es um die Rolle der Frauen im Parlament bestellt ist. Minutenlanges Schweigen, keine Antwort, nicht einmal eine verzogene Miene. Kein Thema für die indischen Herren. Dabei gibt es in Telangana die erste Frau Gouverneurin: Tamilisai Soundararajan. Im Regionalparlament sitzen sieben Prozent Frauen. Auf Bundesebene sind es 14 Prozent. Damit liegt Indien beim Frauenanteil weltweit auf Platz 148.
Für Premier Narendra Modi ist der Ausbau seiner Macht wichtiger, seit 2014 wächst sie bei jeder Wahl. Der belgische Politikwissenschafter Gilles Vernier, der nahe Delhi an der Ashoka University lehrt, vergleicht Modis ideologische Basis mit den 1930er Jahren: „Sie fußt auf einem Hindu-Nationalismus, der zur selben Zeit entstand wie der Faschismus in Europa. Sein Credo lautet: Ein Land, eine Sprache, eine Religion“. In Indien gibt es neben Englisch 22 offizielle Sprachen und in der Verfassung festgeschriebene Religionsfreiheit. Vernier zum KURIER: „Modis Politik hat autoritäre Züge, allerdings mit demokratischen Elementen.“
Die Impfdiplomatie
Vermarktet wird Modi in Indien wie kein Politiker seit Gandhi. Sein Bild findet sich auf Reissäcken. Und sogar auf jedem Impfzertifikat. Indiens Impfprogramm ist das größte der Welt. Zunächst gab es Zulassungen für Astra Zeneca und einen eigenen Impfstoff, mittlerweile produziert man einen weiteren. Indien belieferte sogar Länder, denen man sonst nicht gut gesonnen ist, mit Impfungen, was als Impfdiplomatie gesehen wurde. 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sind geimpft, so genau weiß man das nicht in einem Land, in dem zig Millionen auf der Straße leben.
Am Höhepunkt der Pandemie war die Lage desaströs, das Gesundheitssystem ist schlecht, es gab kaum Sauerstoff. Jetzt glaubt man in Indien, die Pandemie so gut wie überstanden zu haben. In Delhi gibt es pro Tag nur 200 Neuinfektionen, getestet wird allerdings kaum. Um den Tourismus anzukurbeln wurden Gratis-Visa ausgestellt, ab 27. März können wieder alle Airlines nach Indien fliegen.
Die beliebtesten Ziele liegen im Süden, definitiv nicht in Delhi. Dort ist man am stärksten von der Umweltverschmutzung betroffen, vor allem wegen der Automassen, die sich hupend durch die Straßen kämpfen. Und wegen der Erntereste, die im Umfeld verbrannt werden. Ohne Indien hat der Kampf gegen den Klimawandel kaum Chancen.
Am Rande von Delhi gibt es Flüsse, in denen kein Fisch mehr lebt. Die Stadt selbst hat riesige Grünzonen. Zum Beispiel jenen Park, in dem das Denkmal für den 1948 ermordeten Mahatma Gandhi steht: Ein schwarzer Marmorblock an der Stelle, wo sein Leichnam eingeäschert wurde. Sobotka legte dort einen Kranz nieder und schrieb ins Gästebuch: „Sein Einsatz für den Frieden, gelebt durch seine persönliche Überzeugung, gibt Beispiel auch für uns – in einer Zeit, in der das mehr als notwendig erscheint, wenn wir an den Krieg nahe unserer Heimat in der Ukraine denken.“
Am Sonntag berichtet auch „Hohes Haus“ (12 Uhr, ORF 2) über die Reise der Parlamentarier nach Indien
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