Mehr Politik, weniger Ideologie: So tickt unsere Jugend

Mehr Politik, weniger Ideologie: So tickt unsere Jugend
Jugendliche und Demokratie: Teenager interessieren sich wieder stärker für Politik, wollen aber weniger Ideologie.

Wie soll man diese Jugend verstehen? In einer ersten Klasse HAK erfinden 15-jährige Schülerinnen für ein Demokratie-Projekt eine Partei namens „Die Sözis“ samt Programm: erstens mehr Mistkübel und Recycling wegen der Umwelt, zweitens mehr Polizisten für die Sicherheit. Sie wollen mehr Spenden für Arme und strengere Konsequenzen bei Verfehlungen.

Mehr Politik, weniger Ideologie: So tickt unsere Jugend

Die Sözis“ mit Melisa Aktas (li.) und Selma Ikovic vereinen klassisch linke und rechte Forderungen.

Das Beispiel ist durchaus repräsentativ. Jugend lässt sich kaum in politischen Klischees und tradierten Ideologie-Clustern verorten, zeigen so gut wie alle Untersuchungen – erst vor wenigen Tagen wieder die neue Jugendstudie des TUI-Institutes mit 6000 Jugendlichen. 71 Prozent der europäischen Jugendlichen würden gegen den EU-Austritt stimmen, aber nur 17 Prozent vertrauen den politischen Akteuren. 44 Prozent halten „Terrorismus-Bekämpfung“ für die aktuell wichtigste Aufgabe, 35 Prozent die „Verringerung sozialer Ungleichheit“. Und 34 Prozent den „Umwelt- und Klimaschutz“. Forderungen rechter Parteien knallen auf traditionell linke Forderungen, die Jugend ist heterogen. Wie soll man das verstehen?

Besuch in der Schule

Vielleicht mit einem Besuch: Die 1AK der Bundes-HAK im zehnten Wiener Gemeindebezirk ist eine von vier Siegerklassen eines Demokratieprojektes des Parlaments und darf demnächst ins Plenum.

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Zur Vorbereitung lernen die Schüler die Grundzüge der Gesetzgebung und erfinden Parteien. Fast alle der 29 Schülerinnen und Schüler der 1AK sind aus dem 10. Bezirk, manche aus der südlichen Peripherie, eine einzige kommt aus einem Innengürtelbezirk. Die Klasse hat nur fünf Buben, 80 Prozent sind Muslime, nur ein Mädchen trägt Kopftuch.

Wilde Forderungen

Sieht man sich ihre fiktiven Parteien an, kann man keine einfachen Antworten ableiten, sieht aber Parallelen zur TUI-Studie. Es geht den 15-Jährigen um soziale Gerechtigkeit, Sicherheit und um Umwelt. Keine der Forderungen klingt jugendlich radikal, manches verblüfft: Die fünf Burschen der Klasse gründeten die „Gerechtigkeitspartei Österreichs“ (GPÖ).

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GPÖ-Gründer: Adrian Jaros (li.) und Wisam Chehoud fordert  „Gleichberechtigung für Frauen“

Top-Agenda: Gleichstellung für Frauen. Anbiederung? Adrian Jaros erklärt: „Nein. Es darf nicht sein, dass Frauen benachteiligt werden. Wenn in einem Lokal auf dem Reumannplatz Personal gesucht wird, steht immer: ,Nette Kellnerin gesucht!’ Warum Kellnerin?“

Der GPÖ ist auch die Umwelt ein Anliegen: „Meine Partei schlägt vor, dass es mehr Abfallsteuern für Lokale und Hotels geben soll.“ Das muss man sich erst einmal einfallen lassen. Und ja, das komme wirklich von den Schülern, betont der Direktor. Die Nachfragen belegen, dass sich die Jugendlichen etwas überlegt haben, sich nicht an gelernte Klischees halten.

Spricht man mit ihnen über Sicherheit, fallen Sätze wie „Medien und Politik berichten viel von Kriminalität und wenig vom Guten. Den Menschen wird Angst gemacht“. Und Anja Risovic von der „AKM – Anti-Kriminalität“ – dekliniert durch: „Kriminalität muss weg, denn sie führt schlussendlich zu Armut.“

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Wiktoria Gadawska und Anja Risovic (re.) gründeten die Partei „Anti-Kriminalität“

Nicht nur solche differenzierten Antworten belegen, dass Österreichs Jugend sich durchaus für Politik begeistern lässt. Im Vorjahr haben sich laut einer Untersuchung der Uni Wien drei von vier Erstwählerinnen und Erstwählern mindestens eine TV-Debatte vor der Nationalratswahl angeschaut. Bei der Wahl 2013 waren es nur zwei von vier. 71 Prozent haben schon einmal das Parlament besucht, 2013 waren es nur 62 Prozent. Über drei Viertel der jungen Österreicherinnen und Österreicher finden das demokratische System gut, nur 18 Prozent wollen aus der EU aussteigen.

Woher kommt neues Politikinteresse?

Es ist nicht ganz klar, warum die Jugend derzeit wieder politikinteressierter ist, Experten vermuten die radikalen Umwälzungen und steigenden Populismus als einen Grund – Stichworte Trump bis Brexit. In Österreich hilft offensichtlich das öffentliche Bemühen: Laut der Uni-Studie hatte die Hälfte aller Erstwähler vor der Wahl 2017 zumindest bei einem schulischen Demokratieprojekt mitgemacht.

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lbana Neziri und Arberesha Dzaferi (re.) von der „SGÖ“, die gegen Ungerechtigkeiten eintritt.

Zum Sieg beim aktuellen Projekt führte die 1AK der HAK ihr Filmbeitrag „Demokratie geht uns alle an!“ und die Auseinandersetzung mit der Frage, was Demokratie ausmacht. Wirft man diese Frage in die Klasse, schnellen die Hände in die Höhe: Meinungsfreiheit! Ein Parlament! Gleichberechtigung! Pressefreiheit! Religionsfreiheit – aber die sei derzeit in Gefahr, finden die Schülerinnen und Schüler, vor allem weil der Islam schlecht dargestellt werde. In den folgenden Äußerungen kommt kein radikales Wort, eher Betroffenheit über die Auswirkung auf die Demokratie. Die einzige Kopftuchträgerin in der Klasse heißt Betül Tahan und sagt: „ Terrorismus hat keine Religion.“ Alle nicken.

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Özgenur Bektas und Nisanur Yildizdal (re.) fordern Bildung.

Unabhängige Experten gefordert

In der europäischen Studie irritiert eine Zahl besonders: 64 Prozent der Jungen finden, dass wichtige politische Entscheidungen von unabhängigen Experten getroffen werden sollten – ohne Wahl. Auch dass ein Drittel die Rechte der Opposition einschränken würde, klingt radikal. In der HAK-Klasse meldet sich auf die Frage, ob ein „starker Führer“ besser wäre nur einer. „Ein wirklich guter, netter Diktator würde mehr bewegen“, sagt Adrian Jaros. Die Klasse murrt, er setzt nach: „Aber das gibt es ja eben nicht.“

Demokratie-Video

Hier können Sie das von der 1AK produzierte Demokratie-Video anschauen:

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