Umso weniger versteht man, dass Sie die Empfehlung von Experten aus der Gecko-Kommission, nämlich viel vorsichtiger zu öffnen, nicht umsetzen.
Ich stehe nicht an zu sagen: Aus meiner Sicht kamen die Öffnungsschritte vermutlich zwei Wochen zu früh. Aber sie waren beschlossen, und alles rückgängig zu machen, das war keine Option. Was die Experten angeht, sind die medizinischen Fragen nur eine unserer "Leitplanken". Die andere sind die grundrechtlichen Fragen. Ich bin gesetzlich dazu verpflichtet, verhältnismäßig zu agieren. Wir haben bereits Dutzende Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, weil sich Bürger über Schutzmaßnahmen beschweren. Das stärkste Argument für einschränkende Maßnahmen ist der Schutz des Gesundheitssystems. Den muss ich immer argumentieren können. Auch dann, wenn sich unsere medizinischen Experten nicht einig sind oder sich der Wissensstand zum Virus von heute auf morgen dramatisch verändert.
Experten wie Niki Popper sagen: Das Problem der Politik ist, dass man die Strategie gewechselt hat – vom "Steck dich nicht an" zu "Es werden sich alle anstecken, also lasst euch impfen" –, dass man dies aber nicht kommuniziert hat. Stimmen Sie zu?
Das Virus verändert sich schneller als wir Maßnahmen und Settings verändern können. Und: Wir haben heute sehr viele Settings, die nicht mehr zeitgemäß sind.
Zählt für Sie dazu, dass wir uns neun verschiedene Strategien beim Testen, Impfen und Aufsperren leisten?
Die Frage, ob der Föderalismus in der Pandemie mehr genutzt oder geschadet hat, wird auch in Deutschland und der Schweiz diskutiert. Ich habe einen pragmatischen Zugang: Bestimmte Dinge müssen einheitlich geregelt werden, und da gehört eine österreichweit einheitliche Strategie beim Testen dazu. Wenn ich in Vorarlberg wohne und geschäftlich in Salzburg oder Wien bin, macht es wenig Sinn, wenn man drei verschiedene Test-Regime aufsetzt. Die Länder sollen und können Spielräume haben. Womit ich mir extrem schwer tue, ist der Schönwetter-Föderalismus. Nach dem Motto: Wenn die Sonne scheint, dann wollen die Länder Spielräume und Kompetenzen haben, und wenn’s stürmt, soll’s der Gesundheitsminister regeln. Dafür bin ich nicht zu haben.
Derzeit holen sich täglich ein paar hundert Menschen die Schutzimpfung ab. War’s das mit der Impfkampagne?
Keineswegs. Die Impfung ist ein Segen, sie schützt vor schweren Verläufen und wir müssen es hinbekommen, dass wir bis zum Herbst in Richtung 80 Prozent Impfquote kommen. Wie? Wir haben gesehen, dass das Verordnen von oben nicht funktioniert. Deshalb müssen wir es anders probieren. Etwa, indem wir die niedergelassenen Ärzte gewinnen, für die Impfung zu werben.
Ein drängendes Thema bleibt die Pflegereform. Ihre Vorgänger wurden scharf kritisiert, weil das Mega-Thema brach lag. Braucht’s vielleicht ein Staatssekretariat?
Eine Staatssekretärin, die sich nur um Pflege kümmert, wurde schon von einigen gefordert. Natürlich wäre das schön, aber das spielt es aktuell nicht. Ich kann versprechen, dass wir uns maximal um das Thema kümmern werden. Und eines ist absehbar: Es muss mehr Geld ins System kommen, sonst werden wir es nicht schaffen, die demografischen Herausforderungen zu stemmen.
Sie haben angedeutet, mit der ÖVP über neue Vermögenssteuern zu reden. Im Regierungsprogramm steht davon aber nichts, oder?
Im Regierungsprogramm steht auch nichts von einer Pandemie oder dass in der Ukraine ein Krieg ausbricht, dessen Folgen uns massiv und direkt treffen. Es ist unabdingbar, dass wir überlegen, wie wir die Ausgaben, die nötig sein werden, um den sozialen Frieden zu wahren, gegenfinanzieren. Denken Sie an die Kurzarbeit. Das war ein Erfolgsmodell. Die Kurzarbeit hat massenhafte Arbeitslosigkeit verhindert und sich nicht nur sozial, sondern auch wirtschaftlich gerechnet.
Es gibt Warnungen, dass die Unterscheidung zwischen "guten Flüchtlingen" aus der Ukraine und "problematischen" aus Afghanistan zu Verwerfungen führt.
Ich sehe die Situation eher als Chance, dass sich unser Diskurs ins Positive verändert. Durch die Erfahrungen der ukrainischen Flüchtlinge wird Leid unmittelbar wahrnehmbar. Die Menschen begreifen, was es heißt, vor Krieg zu flüchten. Das führt im Idealfall dazu, dass man auch die Flucht aus Afghanistan oder Syrien besser versteht. Es ist ja vollkommen egal, aus welchem Land jemand kommt, welche Hautfarbe oder welchen Glauben er hat: Krieg ist immer ein traumatisches Erlebnis.
Ihren Vorgänger hat irritiert, wie stark man sich für seine Schuhe interessiert, den neuen Bildungsminister hat gemagerlt, dass sich alle so für seine Frisur interessieren. Gab's für Sie auch einen "Geh-Bitte"-Moment?
Ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber, welche meiner Eigenheiten die Leute kommentieren. Dafür hab ich keine Zeit. Es ist mir, ehrlich gesagt, völlig wurscht.
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