Gerhard Zeiler: "ORF-Generaldirektor braucht Rückgrat"
Er arbeitet in Salzburg im Homeoffice und leitet von dort aus das internationale Business des US-TV-Giganten WarnerMedia. Der ehemalige ORF-Generaldirektor Gerhard Zeiler spricht im Interview über die Zukunft des TV – über die einzelnen ORF-Kandidaten für den Generaldirektor und über die SPÖ wollte er keinen Kommentar mehr abgeben.
KURIER: Herr Zeiler, früher unterhielt man sich über die letzte Tatort-Folge, heute gibt man sich Tipps, was die besten Serien von HBO, Netflix und Amazon Prime sind. Die TV-Branche ist in einem Umbruch. Wie kann ein öffentlich-rechtlicher TV-Sender mithalten?
Gerhard Zeiler: Der ORF muss weiterhin darauf achten, dass er dem Konsumenten ein Alleinstellungsmerkmal anbieten kann.
Welches könnten das sein?
Da gibt es mehrere Dinge. In erster Linie News und Kultur. Die Nachrichten-Berichterstattung muss so unabhängig wie möglich sein. Die regionale Berichterstattung mit den Landesstudios ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Die Gebührenhoheit wird aber nur weiterhin zu rechtfertigen sein, wenn der ORF allen Konsumenten aller Altersgruppen etwas bieten kann – und das auf allen möglichen Endgeräten. Von linear bis on-demand. Die BBC hat mit ihrem Iplayer (Video-on-Demand-Dienst der BBC) vor zehn Jahren begonnen. Es wird Zeit, dass der ORF über den ORF-Player nicht nur redet, sondern ihn auch umsetzt. Und der letzte Punkt: Der ORF braucht effiziente Strukturen. Das ist in einfachen Worten formuliert, was ein öffentlich-rechtlicher Sender in Zukunft abliefern muss, will er letztlich in einer Form überleben, die auch eine Relevanz hat.
Start in der Politik: Seine Karriere startete der Ottakringer 1979. Zeiler wird Pressesprecher von Fred Sinowatz (SPÖ). Das bleibt er auch unter Nachfolger Franz Vranitzky. 1986 wurde Zeiler Generalsekretär des ORF unter dem Intendanten Thaddäus Podgorski
ORF-General, dann ins Ausland: Dann ging Zeiler ins Ausland, baute den Sender RTL II auf und wurde 1994 ORF-Generalintendant. 1998 übernahm Zeiler die Geschäftsführung von RTL. 2003 der nächste Karrieresprung zum CEO der RTL Group, der Holding aller 45 TV- und Radiosender weltweit. 2012 wurde Zeiler Präsident des Konzerns Turner Broadcasting System International, der TV-Tochter von WarnerMedia. 2019 übernahm der Wiener den internationalen Bereich von Warner Media
ORF-Player, Online-only-Produkte: Damit der ORF das anbieten kann, braucht es eine digitale ORF-Gesetzesnovelle, die es unverständlicherweise immer noch nicht gibt. Wurde eine Entwicklung verschlafen?
Die letzte ORF-Gesetzesänderung war 2001. Wenn man erkennt, dass On-Demand-Content und Streaming ein wesentlicher Teil des Unternehmens sein werden, gibt es keine wichtigere Aufgabe für den ORF-Generaldirektor, als dieses Faktum jeden Tag dem Publikum und der jeweiligen Regierung klar zu machen. Das nur in den Sonntagsreden zu erwähnen, ist zu wenig. Wenn es notwendig ist, dann muss man als ORF-Generaldirektor hier auch öffentlich Druck machen. Denn es hilft niemandem, auch den privaten Konkurrenten nicht, wenn der ORF auf diesem Gebiet nicht tätig sein kann.
Also ein Versäumnis vom ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz?
Ich will jetzt keine Noten verteilen, aber ich weiß, was ich getan hätte. Die Zukunftsstrategien zu erkennen, ist die wesentlichste Aufgabe jeder Unternehmensführung.
Früher gab es Sendungen wie „Wetten, dass ...?“, bei denen sich die ganze Familie vor dem TV-Gerät versammelte. Heute haben viele Haushalte mehrere TV-Geräte, und jeder schaut, was er will. Wurde aus dem Lagerfeuerfeeling nun ein TV für Individualisten?
Es gibt genügend Produktionen, die sich die ganze Familie anschauen kann. Aber wir wollen niemanden zwingen, das TV-Angebot gemeinsam mit der Familie zu konsumieren. Das ist der Unterschied. Der Konsument ist heute König, und der Trend geht zur Individualisierung. Das hat sich wesentlich geändert im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten, wo vielleicht zwei oder drei TV-Sender zur Verfügung standen. Da war TV ein soziales Event, weil es gar nicht anders funktioniert hätte. Heute ist es Einzelentscheidung, wann und wo ich eine Sendung sehen will.
Die internationalen Streaming-Dienste produzieren mit Hollywood-Stars und teilweise auf Oscar-Niveau. Macht es für Öffentlich-Rechtliche Sinn, hier in Konkurrenz zu treten?
Wäre ich heute der Chef eines Free-to-air-Senders, würde ich mich vor allem auf Live-Events konzentrieren. Das sind Sportübertragungen, Nachrichten und auch große Unterhaltungssendungen. Natürlich nicht nur, aber mehr als in der Vergangenheit. Die Daten aus den USA zeigen, dass die Zahl der traditionell gesehenen Non-live-Fernsehminuten in den letzten Jahren deutlich gesunken, aber die Anzahl der traditionell gesehenen Live-Minuten unverändert geblieben ist. Auch bei vielen europäischen Sendern können Sie eine Hinwendung zu mehr Livesendungen oder zu Sendungen, die ein Live-Feeling vermitteln, beobachten. Was die fiktionalen Inhalte betrifft, braucht es Lokalkolorit. Jede fiktionale Serie muss natürlich auch professionell produziert werden, um erfolgreich zu sein. Aber Lokalkolorit ist mit Sicherheit ein Konkurrenzvorteil. Respekt vor Kathi Zechner, die das erkannt hat und zum Beispiel die Serie „Vorstadtweiber“ produzieren ließ. Was mich aber an der Diskussion über die zunehmende Konkurrenz der Streaming-Dienste generell stört, ist die zumeist negative und defensive Einstellung der etablierten Sender: „Oh mein Gott, die Fernsehwelt ändert sich. Das wird ganz schwierig für uns“, hört man oft. Stattdessen sollte man es als Chance sehen, noch mehr TV-Konsumenten zu erreichen – zu anderen Zeiten, auf anderen Endgeräten und mit anderen Inhalten.
Zurück zur ORF-Wahl: Es wird viel über die Unabhängigkeit debattiert. Sie waren vier Jahre lang ORF-Generaldirektor, wie kann man den politischen Einfluss und denn ORF entkoppeln?
In Europa sieht man eine ganz klare Tendenz: Je nördlicher das Land liegt, desto unabhängiger ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk von der Politik, je südlicher, umso abhängiger ist er. Im Vergleich zur geografischen Lage von Österreich sind wir, was die Nähe zur Politik betrifft, leider etwas südlicher positioniert, als wir es sein sollten. Natürlich gibt es Möglichkeiten, den ORF strukturell unabhängiger zu gestalten, aber das muss die Politik auch wollen. Solange sich die Parteien mehrheitlich nur dafür interessieren, welche Inhalte in der ZiB 1 und in der ZiB 2 vorkommen, und ihre personellen und regulatorischen Entscheidungen danach ausrichten, wird es schwierig, die gesetzlich geforderte Unabhängigkeit auch umzusetzen. Aber egal, wie die Zusammensetzung des Stiftungsrates ist oder wer zum Generaldirektor gewählt wird: Der Chef des ORF benötigt in erster Linie Rückgrat und eine innere Unabhängigkeit.
Um den besten Generaldirektor oder jenen/jene mit dem besten Rückgrat zu wählen, wäre eine geheime Wahl nicht dringend notwendig? Selbstverständlich.
Zum Abschluss: Was ist Ihr momentaner Serien-Tipp?
Die Krimi-Mini-Serie „Mare of Easttown“ mit Kate Winslet (zu sehen auf Sky).
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