Empörung um Freisprüche im Fall Anna: Sprechen Sie Juristisch?

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Die Justiz kann sich nur schwer verständlich machen, wie die Aufregung rund um den mutmaßlichen Missbrauchsprozess zeigte. Eine Runde um OLG-Präsidentin Lehmayer sprach über das Problem – und mögliche Lösungen.

Es dauert fast eine Stunde und bedarf der konkreten Frage eines Journalisten, bis die Runde an Juristen, die am Donnerstag zu einem Mediengespräch geladen hat, den Anlass beim Namen nennt: Ja, es geht um den sogenannten „Fall Anna“, in dem jüngst zehn Burschen vom Missbrauch einer Zwölfjährigen freigesprochen wurden.

Dieses Verklausulieren ist symptomatisch für das Problem, mit dem die Justiz aktuell konfrontiert ist: Die Menschen verstehen Entscheidungen nicht, fühlen sich vor den Kopf gestoßen, werden wütend. Der vorsitzende Richter im Fall Anna bekam sogar Morddrohungen. Klare Worte, die nötig wären, um sich verständlich zu machen, fehlen oder kommen zu spät.

Genau diese Verständlichkeit sei elementar für die Akzeptanz der Justiz als Institution und in weiterer Folge für die Demokratie, wie das Podium – bestehend aus der Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, Katharina Lehmayer, den Richterinnen Michaela Masicek-Wallner und Susanne Lehr sowie den Uni-Professoren Meinhard Lukas und Robert Kert – ausführt.

Nach dem knapp zweistündigen Mediengespräch lassen sich fünf Punkte identifizieren, an denen es hakt:

1. Fachsprache

Die versammelten Rechtswissenschafter haben sich zum Ziel gesetzt, verständlicher zu kommunizieren. Wenn dann die Grundlagen eines Strafverfahrens erklärt werden und dabei Begriffe wie „subjektive Tatseite“ (jemand muss etwas absichtlich gemacht haben) oder „persönliche Werturteile“ (Hasspostings) fallen, wird deutlich: Sie können nicht aus ihrer Haut.

Juristen legen wie kaum eine andere Berufsgruppe so großen Wert auf ihr Fachvokabular – und wollen auch so in den Medien zitiert werden. Ganz einfach, weil eben nur dieser eine Begriff juristisch korrekt zu sein scheint. Dass Journalisten da manches für die Leserschaft übersetzen und vereinfachen, wird oft nur zähneknirschend gebilligt.

2. Klare Ansagen

„Das ist etwas kompliziert, da muss man unterscheiden“, lautet eine typische Einleitung für eine Antwort. Die differenzierte Sichtweise, die gerade in der Juristerei eine Voraussetzung ist, kann dazu führen, dass der Durchschnittsbürger aussteigt. Wer sich von Juristen ein klares Ja oder Nein erwartet, wird oft enttäuscht.

Noch heikler wird es, wenn sich Juristen auf „fremdem“ Terrain positionieren sollen. Als ein Journalist etwa fragt, wie sie zur geplanten Verschärfung des Sexualstrafrechts („Nur Ja heißt Ja“) steht, antwortet OLG-Präsidentin Lehmayer: „Das ist eine rechtspolitische Entscheidung, zu der es mehrere Standpunkte gibt.“ Persönlich – „als Frau und Staatsbürgerin“ – begrüße sie das Vorhaben.

Konkrete Fragen zum Fall Anna werden nicht beantwortet: „Ich kenne den Akt nicht“, heißt es dann. 

Darauf angesprochen, dass Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) das Urteil als „Fehlurteil“ bezeichnete, kommentiert Uniprofessor Lukas doch etwas deutlicher: Eine Bundesministerin, die das – ohne Aktenkenntnis – tut, habe „den Kern der Gewaltentrennung nicht verstanden. Das ist für den Rechtsstaat schlecht.“

3. Waffenungleichheit

Immer mitbedenken müssen Staatsanwälte und Richter in öffentlichen Statements das Amtsgeheimnis. „Wir würden uns oft gerne mehr erklären, aber dem sind Grenzen gesetzt“, sagt Lehmayer, die daran erinnert: Ermittlungsverfahren sind nicht öffentlich. Auch wenn Verteidiger mit Details an die Öffentlichkeit gehen und das Verfahren dadurch de facto öffentlich wird, dürfen Justizbeamte nicht entsprechend kontern.

Es entsteht eine Waffenungleichheit: Die eine Seite darf fast alles sagen, die andere fast nichts. Hinzu kommt der Medienerlass des Justizministeriums, der regelt, wie seine Behörden zu kommunizieren haben. 

Der Medienerlass müsse weiterentwickelt werden, sagt Uniprofessor Lukas – angesichts der Zunahme der „Litigation PR“. Immer mehr PR-Berater beschäftigen sich alleine damit, wie man einen Beschuldigten in der medialen Öffentlichkeit möglichst gut dastehen lässt.

Die Justiz hat auf diesen Trend reagiert und für die vier OLG-Sprengel plus die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) je einen Mediensprecher engagiert, der dezidiert nicht Jurist ist, sondern aus dem PR- bzw. Medienbereich kommt.

4. Feingefühl

Juristen scheint im Studium jegliche Emotion abtrainiert worden zu sein – so wirkt es zumindest in den Gerichtssälen und bei Medienstatements. Dass sich da viele Bürger nicht „abgeholt“ fühlen – gerade wenn so aufwühlende Urteile wie im Fall Anna fallen –, liegt auf der Hand. 

Mitunter mangelt es auch an Feingefühl: Eine Richterin in einem früheren Prozess wegen Vergewaltigung im Fall Anna sagte beispielsweise, dass Frauen manchmal „Nein“ sagen, sich dann aber durch Zärtlichkeiten umstimmen lassen.

Ein Satz, der rechtlich auf den Sachverhalt zugetroffen haben mag, gesellschaftlich aber inakzeptabel ist – das hat der nachfolgende „Wertungsexzess“ (Juristendeutsch für: Shitstorm) deutlich gemacht.

5. Recht vs. Gerechtigkeit

Dass zehn Burschen ein damals zwölfjähriges Mädchen für Sex ausgenutzt haben, wird moralisch als verwerflich angesehen. Strafrechtlich ließ sich aber nicht nachweisen, dass sie genötigt oder in ihrer Selbstbestimmung verletzt wurde, deshalb kam es im Fall Anna zu den Freisprüchen.

„Wir urteilen auf Basis von Gesetzen, nicht nach Stimmung, Schlagzeilen und Erwartungen“, sagt OLG-Präsidentin Lehmayer zur öffentlichen Empörung.

Strafrechtler Kert unterstreicht, dass Richter nicht nach Willkür entscheiden, und gibt zu bedenken: Genauso unerträglich, wie sich die (nicht rechtskräftigen!) Freisprüche anfühlen mögen, wäre es, wenn jemand eingesperrt wird, der unschuldig ist.

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