Experten sehen Durchgriffsrecht kritisch: "Verfassungsrechtler Aktionismus"

Im Laufe des Septembers werden weitere Papiere und Mails Silbersteins publiziert: Stärke-Schwächen-Analysen und pikante SPÖ-Interna bis hin zu jenem Mail, das Kanzler Kern als politisch unerfahren, sprunghaft und eitel beschreibt. Die SPÖ vermutet als Quelle des Informationslecks eine ehemalige Silberstein-Mitarbeiterin, die über gute Kontakte zu ÖVP und NEOS verfügen soll.
Verfassungsrechtler können der Idee einer Art Richtlinienkompetenz wenig abgewinnen.

Angela Merkel hat sie, Christian Kern wollte so etwas Ähnliches haben - eine Richtlinienkompetenz. Die SPÖ wollte in Sicherheitsfragen ein Durchgriffs- bzw. Weisungsrecht für den Bundeskanzler installieren - und sie will ein "Sicherheitskabinett" einrichten. In dem Kabinett sollen neben dem Regierungschef und dem Vizekanzler, der Innen-, der Verteidigungs, der Außen- und der Justizminister sitzen. Nach Kritik aus der ÖVP (Innenminister Sobotka: "Ein Durchgriffsrecht kommt nicht in Frage.") ruderte die SPÖ zurück und behauptet nun, eine derart weitreichende Richtlinienkompetenz nie angestrebt zu haben.

Wäre es rechtlich überhaupt möglich, ein Durchgriffrecht für den Kanzler zu schaffen? Und wie funktioniert es mit der Richtlinienkompetenz in Deutschland? Der KURIER fragte Experten.

Der Sinn einer Richtlinienkompetenz

Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk sagt im KURIER-Gespräch: "Ich sehe weder eine Notwendigkeit, so etwas zu schaffen noch einen besonderen Nutzen. Ich sehe nicht, welchen Mehrwert das ganze haben soll. Ich halte das für einen verfassungsrechtlichen Aktionismus." Schließlich müssten die maßgeblichen Entscheidungen in der Regierung stets einstimmig erzielt werden. "Die Regierungsmitglieder müssten sich ja weiterhin einigen." Würde der Regierungschef etwas anordnen, was der Koalitionspartner nicht mittrage, würde doch die Regierung platzen. Funk: "In einer Koalition ist das Durchgriffsrecht also nicht wirklich wirksam."

Klar sei, dass dem Bundeskanzler eine derartige Kompetenz nur übertragen werden kann, wenn man ein Verfassungsgesetz beschließt. "Das kann man nur mit einer Verfassungsänderung machen", erklärt Funk. Dafür wäre im Parlament eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig, also die Zustimmung von Teilen der Opposition.

Ähnliche Bedenken in Sachen Richtlinienkompetenz äußert Theo Öhlinger. Eine Richtlinienkompetenz gebe dem Bundeskanzler eine stärkere Stellung – in der Theorie. Auch der Verfassungsrechtler ist sich im KURIER-Gespräch sicher, eine derartige Kompetenz würde dem Kanzler in einer großen Koalition von zwei gleich starken Parteien "nicht viel bringen". Der Koalitionspartner könnte sich als Reaktion einfach aus der Regierung verabschieden. "Einen Konsens der Parteien kann man nicht durch eine Richtlinienkompetenz erzwingen", sagt auch Öhlinger. Es mache dabei keinen Unterschied, ob die Richtlininekompetenz nur in einem Sicherheitskabinett bestünde, für Öhlinger bleibt es ein "Stolperstein für eine Koalition".

Was ist ein Notfall?

Das Sicherheitskabinett soll im Notfall zusammenkommen. Aber in welcher Situation genau wäre ein Sicherheitskabinett eigentlich zu aktivieren? In dieser Fragestellung ortet Öhlinger ein Problem. Laut dem Verfassungsrechtler müsste noch definiert werden, was denn ein derartiger Notfall wäre. Rechtspolitisch gibt es so etwas nicht. Eine Definition zu finden, die die Möglichkeit des Missbrauchs ausschließt, sei schwierig. Er hält deshalb wenig davon.

Öhlinger sagt, es gebe andere Möglichkeiten, einzelne Maßnahmen in der Sicherheitspolitik umzusetzen. Dafür müsste man jeweils ein Verfassungsgesetz schaffen. So geschehen etwa im Herbst 2015, als die Regierung damit das Durchgriffsrecht des Bundes auf die Gemeinde für Flüchtlingsquartiere erwirkte.

Ein Blick nach nebenan

In Deutschland ist die Richtlinienkompetenz nicht unumstritten. Der Artikel 65 des Grundgesetzes verschafft der Bundeskanzlerin die Möglichkeit, ihre politischen Vorstellungen, also die Ausrichtung der Regierungspolitik, wenn nötig auch über die Köpfe ihrer Minister hinweg zu bestimmen. In der Realität bringt diese Kompetenz der Kanzlerin aber nicht viel. In der Praxis wird auch in der deutschen Regierung gemeinsam entschieden – nach dem Kollegialprinzip.

Über mögliche Auswirkungen der Richtlinienkompetenz in Deutschland sagte Sigmar Gabriel - Chef der SPD und damit kleinerer Partner in Angela Merkels Koalition - schon 2013 im Interview mit der Bild: "Wer die Richtlinienkompetenz als Kanzler gegen den Koalitionspartner ausübt, der beendet die Koalition."

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