Experte Güngör: Kurz nicht pro-aktiv für Europa

Eines der wenigen Fotos von Sebastian Kurz mit Angela Merkel
Der Bundeskanzler reist am Mittwoch als "Zeichen einer pro-europäischen Ausrichtung" zu Angela Merkel nach Berlin. Soziologe Kenan Güngör betrachtet die bisherige Europa-Politik des vormaligen Außenministers allerdings skeptisch.

Wenn Bundeskanzler Sebastian Kurz am Mittwoch zu seiner deutschen Amtskollegin Angela Merkel nach Berlin reist, dann will er damit die "pro-europäische Ausrichtung" seiner schwarz-blauen Regierung unter Beweis stellen. Der Experte Kenan Güngör bezweifelt indes, ob Kurz tatsächlich so agiert. "Ich würde ihn als europäisch einstufen, aber dass er pro-aktiv für Europa ist, sehe ich nicht", so Güngör.

Mit gleichlautenden Argumenten hatte Kurz auch für seine Visite bei Frankreichs Präsidenten Emanuel Macron am vergangenen Freitag geworben. Der Soziologe und Integrationsexperte Güngör beurteilt die tatsächliche bisherige EU-Politik des ÖVP-Kanzler diesbezüglich hingegen eher skeptisch: "Es ist ein Unterschied, ob ich mich in Europa für Europa engagiere oder mich in Europa für Österreich einsetze." Anders ausgedrückt: "Es ist die Frage, ob Europa ein Verbund von Einzelinteressen ist oder ob es ein gemeinsames europäisches Interesse gibt." Österreichs Politik richte sich derzeit nach dem ersten Punkt aus.

Experte Güngör: Kurz nicht pro-aktiv für Europa
Interview mit dem Integrationsexperten Kenan Güngör am 01.09.2016 in Wien.

Das Regierungsprogramm der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung spreche diesbezüglich eine klare Sprache, so der 1969 in der Türkei geborene Experte, der in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland, der Schweiz und Österreich lebte und forschte und sich selbst als "deutschsprachigen Europäer mit kurdisch-türkischen Wurzeln" bezeichnet. Seit 2007 betreibt er in Wien das Beratungs- und Forschungsbüro "think.difference".

"Schizophrene Europapolitik"

Österreich betreibe schon seit Jahren der EU gegenüber eine schizophrene und populistische Politik. "Nämlich jene, zu sagen, wir sind zwar in der EU, wollen sie aber nicht. Es gibt da dieses Lächerlichmachen der EU. Es gibt diese Tendenz, in der Europäischen Union eine Anti-EU-Position einzunehmen und immer die nationale Karte zu spielen." Das mache sowohl die ÖVP, "obwohl die ursprünglich am pro-europäischsten war", aber auch die SPÖ und die FPÖ. Diese habe ja vor gar nicht all zu langer Zeit mit einem "Öxit" geliebäugelt, ehe sie durch die "Brexit"-Diskussion erkannt habe, dass ein Ausstieg Österreichs aus der Europäischen Union vielleicht doch nicht so populär und opportun wäre.

Der 31-jährige Bundeskanzler müsse daher derzeit einen Spagat hinlegen, analysierte Güngör: "Er muss sich EU-kompatibel zeigen und den Pro-Europäer darstellen, allerdings muss er auch seinem Koalitionspartner gerecht werden. Daher muss er auch stärker auf europadistanziert machen und die nationalen Interessen betonen." Verklausuliert werde dies eben durch Ausdrücke wie die Forderung nach einer "Subsidiarität" innerhalb der EU. Die Bemühungen von Macron, Merkel oder den Beneluxländern gehen in eine andere Richtung: "Sie wollen eine größere europäische Integration vorantreiben, mehr gemeinsame Außen-, Sicherheits- und auch Migrationspolitik, eine stärkere Harmonisierung." Die aktuelle österreichische Bundesregierung stehe unter der Führung von Kurz aber tendenziell aufseiten jener osteuropäischen Länder, die "eher ein schwaches europäisches Gebilde sehen wollen." Nachsatz: "Das kommt wiederum den Amerikanern und Russen entgegen."

Naheverhältnis zu Visegrad

Kurz habe zwar vor allem während der Flüchtlingskrise aus reinem Pragmatismus ein Naheverhältnis zu den in der EU umstrittenen Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen entwickelt, weil er die Notwendigkeit der Grenzschließungen gesehen habe, verabsäume es aber, sich nun deutlich von Politikerin wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban abzugrenzen. "Er sieht sich immer mehr als Fürsprecher der Visegrad-Länder, aber da kommt er immer mehr in ein Boot mit Staaten und Parteien, die sehr, sehr rechtspopulistische bis rechtsextreme Positionen vertreten, die viel weiter rechts sind, als es die ÖVP ideologisch je war."

FPÖ hat "kein Interesse an gelungener Integration"

Mit der FPÖ habe Kurz sich zudem einen Koalitionspartner ausgesucht, der gar kein Interesse an einer gelungenen Integration von Flüchtlingen und anderen Migranten habe, "weil sie damit ihr Alleinstellungsmerkmal verlieren würde. Die FPÖ zielt auf Marginalisierung, nicht auf Integration." Ein großer Kritikpunkt ist für Güngör daher, dass Kurz "die Deutungshoheit in der Integrationspolitik der FPÖ übergeben" habe. "Das ist ein Armutszeugnis für die ÖVP."

Kurz selbst habe sich zu Beginn in seiner Zeit als Staatssekretär in Integrationsfragen sehr "offen und zukunftsoptimistisch" gezeigt, erinnerte sich Güngör im APA-Gespräch. "Das tat der Integrationspolitik damals gut." Er habe zu dieser Zeit auch versucht, konservative Werte wie "Integration durch Leistung" anzusprechen. "Dann kamen zwei drei Ereignisse, die ihn in den Grundfesten erschüttert haben: Der aufkommende islamische Extremismus, der Dschihad-Tourismus und der politische Islam. Er stellte sich dann wohl die Frage, ob er nicht zu blauäugig gewesen war."

Zwar sei Kurz im Gegensatz zu anderen Politikern in Österreich in der Flüchtlingsfrage "nie gehässig" geworden, er habe aber schnell erkannt, "was opportun ist". Kurz und sein Team hätten ein gutes "G'spür" dafür, was bei der Bevölkerung ankomme. "Er sah, dass sich seine Enttäuschung mit der Skepsis vieler Österreicher deckte und er konnte aus dieser Skepsis politisches Kapital schlagen."

Güngör: CSU ist Pendant zu ÖVP, nicht CDU

Mit Merkel treffe Kurz jedenfalls die Politikerin einer Partei, die in Fragen der sozialen Zuwanderung und der Integrationspolitik wesentlich liberaler einzustufen sei, als die ÖVP. "Die CDU ist nicht das Pendant der ÖVP in Deutschland, das ist eher die CSU in Bayern." Die Konflikte, die die CSU und die CDU in der Flüchtlingsfrage in der Integrationspolitik intern ausfechten, würden auch die Unterschiede zwischen CDU und ÖVP widerspiegeln. Die "Neue ÖVP" von Sebastian Kurz habe mit der CSU "deutlich mehr Überschneidungspunkte" als mit Merkels CDU.

Zudem sei Deutschland ein Land, das in Migrations- oder Flüchtlingsfragen wesentlich mehr "Beißhemmung" habe. "Weil sich die Menschen ihres historischen Erbes intensiver bewusst sind" und mit Reminiszenzen oder Naheverhältnissen, die zum Beispiel an die NS-Zeit erinnern könnten, wesentlich sensibler umgingen. In Österreich habe es diese historische Aufarbeitung in einem solchen Ausmaß nicht gegeben. Daher sei man viel eher geneigt, Positionen zu vertreten, die fremden- oder minderheitenfeindlich sind, "weil sei plausibel und populistisch erscheinen."

Hochkarätiges Abendessen bei Springer

Bundeskanzler Kurz wird am Mittwoch und Donnerstag in der deutschen Hauptstadt Berlin neben seiner Amtskollegin Angela Merkel auch den Bundestagspräsidenten und früheren Finanzminister Wolfgang Schäuble (ebenfalls CDU) und den aus der Sozialdemokratie (SPD) stammenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier treffen. Zudem ist laut seinem Büro ein Solo-Auftritt in der TV-Talkshow von Sandra Maischberger (ARD) sowie ein "hochkarätiges Abendessen" im "Axel-Springer-Haus" vorgesehen, zu dem sich unter anderen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Staatssekretär Jens Spahn (beide CDU) sowie die österreichische Schauspielerin Sonja Kirchberger und der österreichische Bundesliga-Fußballcoach Ralph Hasenhüttl (RB Leipzig) angesagt haben. Der Axel-Springer-Verlag ist eines der größten Verlagshäuser in Europa mit einer Reihe multimedialer Medienmarken, am bekanntesten sind das Boulevardblatt Bild und die Tageszeitung Die Welt.

(Edgar Schütz/APA)

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