Der Krieg auf europäischem Boden ist offensichtlich die größte Aufgabe der Gegenwart. Ich würde es nicht als "Wunde" bezeichnen, weil ich gerade einen „Kiew-Moment“ wahrnehme. In Wien, München, Oslo und Athen: Überall fühlen die Menschen das Gleiche. Sie sind geschockt von der Brutalität der russischen Angriffe. Und sie sind in Solidarität mit den anderen Europäern und mit den Ukrainern, die für ihre Werte eintreten. Der Krieg treibt Europa nicht auseinander, wie es Putins Kalkül war, er bringt uns zusammen. Und die Ukrainer sind im Herzen Europas.
Sie haben gesagt, die Ukraine bezahlt jetzt für die Fehler, die wir in den letzten Jahren gemacht haben. Welche sind das?
Spätestens seit der illegalen Besetzung der Krim im Jahr 2014, als Wladimir Putin mit Gewalt Grenzen verschoben hat, war unsere Politik naiv. Putins Plan war damals klar, und jetzt liegt es an uns, die Naivität abzulegen – auch im Hinblick auf China.
Bleiben wir noch bei der Ukraine: Wenn Sie ein Bürger fragt, was unser Ziel im Konflikt ist, was antworten Sie?
Ich würde mit einer Gegenfrage antworten: Geht’s hier nur um Russland und die Ukraine – oder geht es um mehr? Ich sage: Es geht um mehr. Putin denkt in imperialen Einflusszonen, er kämpft gegen Demokratie, Freiheit und den European Way of Life. Dieses Denken ist das Gegenteil von dem, was uns Europäer ausmacht. Wir denken in Freundschaft, in Partnerschaft, wir wollen Demokratie und Freiheit stärken. Es geht also um einen Kampf der Wertesysteme.
Wie geht das weiter?
Das ist schwer zu prognostizieren. Ich habe in Niederbayern und Paris Flüchtlinge getroffen, die haben mich tief beeindruckt. Die Ukrainer sind durchdrungen von der Haltung "Wir lassen uns unser Leben nicht von Putin wegnehmen." Jeder mit Vernunft wünscht sich, dass die Waffen schweigen. Aber die Bedingungen dafür kann nur die Ukraine definieren, sie ist das Opfer. Klar ist: Wir dürfen als NATO nicht Kriegspartei werden. Und klar ist auch: Man darf sich nicht einschüchtern lassen. Die stärkste Waffe gegenüber Putin sind Geschlossenheit und Entschiedenheit.
Apropos NATO: Wie verändern sich gerade die transatlantischen Beziehungen?
Der globale Wettbewerb läuft zwischen Autokratien, Diktaturen und der freien Welt. Amerikaner und Europäer sind in vielen Belangen unterschiedlich, aber wir haben gemeinsame Grundüberzeugungen. Und deswegen brauchen wir eine Renaissance unserer Partnerschaft. Wir müssen die Idee einer Partnerschaft der freien Welt angehen. 60 Prozent der Wirtschaftskraft der Welt werden vertreten durch freie Gesellschaften. Diese 60 Prozent müssen zusammenstehen. Und Europa muss eigenständiger und souveräner werden. Was passiert, wenn in den USA Donald Trump oder ein Nachfolger im Geiste wiedergewählt wird? Europa muss seine Verteidigung eigenständig garantieren können. Zumindest in den Bereichen, wo wir einen echten Mehrwert haben, also beim Cyberwar und bei der Raketen-Abwehr.
Die EU will sich ja tatsächlich neu formieren, es gibt die Idee, die Verträge aufzuschnüren und vom Einstimmigkeitsprinzip abzugehen. Was ist realistisch?
Was die gemeinsame Außenpolitik angeht, sind wir Europäer oftmals nackt in einer Welt von Stürmen. Die Architektur der EU gibt uns einfach nicht das nötige Handwerkszeug. Denken Sie an das Ölembargo: Derzeit kann Ungarn die gesamte Union blockieren, weil das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Davon müssen wir weg! Und wir dürfen nicht nur reagieren, wir müssen agieren. Helmut Kohl hat auf den Euro gedrängt, weil er gewusst hat, dass dies die Wirtschaft und Unabhängigkeit Europas stärkt – er hat nicht Ängste befeuert. Diesen Mut brauchen wir als Europäer wieder.
Macron spricht von einer "Föderation der Willigen", bei der die Ukraine dabei sein könnte.
Ich bin der Meinung, die Ukrainer sind im Herzen Europas. Wenn Präsident Selenskij die Frage stellt, ob es wert ist zu kämpfen und ob die Ukraine Mitglied in der EU werden darf, kann es nur eine Antwort geben: Ja! Das kann man nicht wegwischen mit einer Zweitklasse-Mitgliedschaft. Die Ukraine sollte eine Beitrittsperspektive bekommen, auch wenn es seine Zeit dauert.
Sie haben zuvor gesagt, Europa müsse seine Naivität gegenüber China ablegen. Was meinen Sie damit?
Was für Russland Nord Stream 2 war, ist bei China das Investitionsschutzabkommen. Im Oktober wird in China ein Präsident auf Lebenszeit gewählt. Das System dort wird sich fundamental ändern, das geht in eine bedenkliche Richtung.
Was bedeutet das für uns? Heißt das, Europa muss reindustrialisiert werden?
Die Abhängigkeiten sind enorm. Und wenn wir jetzt nicht einen neuen politischen Ansatz wählen, werden die Abhängigkeiten bis 2030 so groß, dass unsere Industrie an einem kritischen Punkt ist. Das darf nicht passieren. Wir müssen auf andere Partnerschaften bauen. Indien ist größer als China und hat großes Wachstumspotenzial. Und unser Blick nach Afrika ist immer noch getrieben von Entwicklungshilfepolitik und nicht von echter Partnerschaft. Es gäbe viele starke Partner, mit denen wir unsere Welt sichern könnten. Was mit China die letzten 30 Jahre passiert ist, kann auch mit Afrika und Indien gelingen. Aber wir müssen unsere China-Fixierung aufgeben. Wir brauchen eine Neugründung einer Art WTO für die freie Welt.
Kommen wir nach Österreich: Sie kennen das Land gut, haben hier wahlgekämpft und Sebastian Kurz war für Sie und für viele Christdemokraten ein politisches Vorbild. Was bleibt von seiner Ära?
Es bleiben zwei wichtige Wahlerfolge für die ÖVP. Und es bleibt eine Phase, in der Österreich für die Zukunft geprägt worden ist. Ich denke an die Migrationspolitik, das war auch ein für Europa wichtiger Akzent, dass wir die Außengrenzen schützen müssen. In der Koalition mit den Grünen denke ich an die ökosoziale Steuerreform. Inhaltlich bleibt eine gute Bilanz, und Karl Nehammer schreibt nun das nächste Kapitel auf seine Weise weiter.
Kann Nehammer Kanzler?
Absolut. Er ist bodenständig, pragmatisch und lösungsorientiert.
Und sein Besuch in Moskau?
War mutig. In einer Zeit der allgemeinen Sprachlosigkeit kann es nicht falsch sein, das Gespräch zu suchen – wenn man eine klare Position hat.
Auch dann nicht, wenn das Gegenüber Wladimir Putin heißt?
Nein, denn Karl Nehammer hat davor und danach klargemacht, dass er eine Haltung hat. Soweit ich es beurteilen kann, hat er mit Putin Klartext gesprochen. Insofern war das ein wichtiger Beitrag zur Diplomatie.
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