Entscheidende Tage: Reicht die gute Stimmung für Türkis-Grün?
Sondierungsfinale! In diesen Stunden ist die Nervosität bei Türkisen wie Grünen auffallend hoch. Verhandlungsteilnehmer verschicken SMS, in denen sie um Nachsicht bitten: „Kann derzeit nicht reden, auch nicht vertraulich! Bitte um Verständnis!“ Grund ist die letzte Sondierungsrunde, die heute, Freitag, ansteht.
Sebastian Kurz vor den letzten Sondierungsgesprächen
Während ÖVP-Chef Sebastian Kurz alleine entscheidet, ob und mit wem er Koalitionsverhandlungen führt, muss sich Grünen-Chef Werner Kogler am Sonntag seinem „Erweiterten Bundesparteivorstand“ stellen. Der EBV befindet, ob und unter welchen Voraussetzungen man Koalitionsgespräche beginnt.
In den Reihen der Volkspartei ist man hoffnungsfroh: Alles andere als Regierungsverhandlungen wäre schwer zu erklären, lautet der Tenor.
Bei den Grünen gibt man sich zurückhaltend. Zur Stunde ist noch nicht einmal klar, was genau Kogler am Sonntag macht. Gibt er dem EBV eine Empfehlung ab? Oder beschreibt er nur, was beim Sondieren passiert ist?
Werner Kogler vor den letzten Sondierungsgesprächen
„Was der Werner am Sonntag macht, steht und fällt mit dem letzten Tag der Sondierungen“, sagt ein Vertrauter. Und damit ist man beim Anfang: Heute, Freitag, ist ein Entscheidungstag.
Wie wahrscheinlich ist welche Koalitons-Variante?
Türkis-Grün: 70 Prozent
Wollen würden sie definitiv beide, also Türkise wie Grüne. Das ist unbestritten.
Auch ist es richtig, dass man einander in den vergangenen Tagen menschlich näher kam. „Die handelnden Personen kannten einander zum Teil ja gar nicht“, erzählt ein VP-Verhandler. „Das ist besser geworden.“
Damit hat es sich am Tag vor dem Sondierungsende aber auch schon wieder. Denn kolportierte Meldungen, wonach Türkis-Grün zu „100 Prozent sicher“ sei und man am 12. Dezember die Regierungsgespräche abschließen wolle, wurden von ÖVP und auch Grünen als „Fantasiemeldungen“ abgetan. „Wer behauptet, die Grünen könnten Anfang Dezember mit den Regierungsverhandlungen fertig sein, der zeigt, dass er überhaupt nichts von uns weiß. Allein die technische Vorbereitung von einem Bundeskongress dauert schon viel länger“, sagt ein grüner Stratege.
Mehr noch: Nachdem am Donnerstag in Boulevard-Medien über den möglichen Fahrplan zum Regierungsvertrag und mögliche Ministerien berichtet wurde, machte sich bei den Grünen Verärgerung breit.
Kein Stillhalten „Über die Sondierungen ist zwischen ÖVP und Grünen absolute Vertraulichkeit vereinbart, wir haben uns professionell daran gehalten. Die ÖVP leakt jetzt schon das dritte Mal Details an Medien“, kritisiert der grüne Nationalratsmandatar Michel Reimon. Da passt es ins Bild, dass der parteiintern gut vernetzte Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi für seine Grünen via Tiroler Tageszeitung nicht nur das Umwelt-, sondern auch gleich das Finanzministerium forderte. Das Argument dafür: Nur wenn die Grünen alle Steuern und Abgaben verantworten, „die für den Klimaschutz relevant sind“ – also Steuern auf Diesel und Benzin etc. – könne man bestehen.
Die Ökologisierung des Steuersystems ist eine der größten inhaltlichen Hürden. Während die ÖVP insbesondere vor dem Hintergrund der sich eintrübenden Konjunktur um das Wirtschaftswachstum bangt, wollen die Grünen nicht klein beigeben. Dennoch: Vor dem Freitag war man optimistisch, dass zumindest über eine Koalition verhandelt wird.
Türkis-Blau: 10 Prozent
Volkspartei und Grüne scheinen auf ihrem Weg zu konkreten Koalitionsverhandlungen bereits weit gekommen zu sein. Sollten die beiden doch recht unterschiedlichen Parteien scheitern und nicht zueinander finden, steht FPÖ-Chef Norbert Hofer bereit. Eine Neuauflage von Türkis-Blau scheint nach dem Ibiza-Skandal und den darauf folgenden – vor allem auch FPÖ-internen – Turbulenzen relativ unwahrscheinlich, ganz ausgeschlossen ist sie bestimmt nicht.
Dazu gibt es auch immer wieder Treffen und Gespräche zwischen hochrangigen Vertretern von
FPÖ und ÖVP hinter den Kulissen. Den Blauen ist es wichtig, für den Fall des Falles die Brücken zur ÖVP nicht ganz abzubrechen. Ein gemeinsames Arbeitsprogramm hätten Sebastian Kurz und Norbert Hofer jedenfalls bereits fix und fertig in der Schublade – das Regierungsprogramm von Türkis-Blau I. Dieses könnte eins zu eins fort- und umgesetzt werden, loben sich die beiden Parteien doch regelmäßig selbst für die seinerzeit gute inhaltliche Zusammenarbeit. Das reicht von der Mindestsicherung über die Kassen- und Steuerreform bis zur Migrationspolitik. Auch auf der persönlichen Ebene galt und gilt das Verhältnis zwischen Kurz und Hofer als durchaus gut.
Türkis-Rot: 20 Prozent
Erster Sondierungsgast der ÖVP war im Oktober die SPÖ. Der Besuch war reichlich kurz. Nach nur drei Stunden sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, man wolle nicht weiter sondieren, solange die ÖVP parallel mit den anderen Parteien spreche. Für Regierungsverhandlungen stehe die SPÖ freilich zur Verfügung.
Sollten die türkis-grünen Gespräche scheitern, wäre eine türkis-rote Koalition also trotz heftiger Sticheleien im Wahlkampf (Rendi-Wagner nannte Kurz etwa „unehrlich und unaufrichtig“) wohl wieder im Rennen. Zumindest aus roter Sicht spräche einiges dafür: Dass die SPÖ in ihrer Rolle als Oppositionspartei nicht aufgeht, haben die vergangene Legislaturperiode und das jüngste Wahldebakel hinreichend gezeigt. Auch der Gewerkschaft liegt daran, die Interessen der Arbeitnehmer wieder in der Regierung vertreten zu wissen.
Obwohl Rendi-Wagner bereits erklärt hat, sie glaube nicht an ein Scheitern der türkis-grünen Sondierungen, legte sie sich auf vier zentrale Punkte fest, die sie in Regierungsverhandlungen einbringen wolle: die Zustimmung der Betriebsräte zum 12-Stunden-Tag, eine rasche Steuerreform (1.700 Euro steuerfrei), eine Klima-Milliarde und die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Mieten.
Minderheitsregierung: 5 Prozent
Was gegen Türkis-Grün, Türkis-Blau oder Türkis-Rot spricht, spricht umgekehrt für eine Minderheitsregierung.
Soll heißen: Findet ÖVP-Chef
Sebastian Kurz keinen Partner für eine „normale“ Zweier-Koalition, könnte es als letzte Lösung zu einer Minderheitsregierung kommen. Das wäre in der Praxis eine ÖVP-Regierung ohne Mehrheit im Parlament, immer angewiesen auf die Zustimmung der Abgeordneten anderer Parteien.
Das erinnert an das sogenannte „freie Spiel der Kräfte“ im Parlament nach dem Misstrauensantrag gegen Türkis-Blau I. Je nach Projekt fanden sich verschiedenste Mehrheiten, um Gesetzesvorhaben umzusetzen. So ähnlich müsste bei einer Minderheitsregierung auch Kurz jeweils um Zustimmung werben. Eine Variante wäre allerdings, dass Kurz eine ÖVP-Minderheitsregierung anführt, die sich die Unterstützung einer anderen Partei vorab sichern kann.
Das historische Vorbild dazu ist die rote Minderheitsregierung 1970/71. SPÖ-Chef Bruno Kreisky gelang es, mittels Zusage einer minderheitenfreundlichen Wahlrechtsänderung die wohlwollende Duldung seiner Minderheitsregierung durch die FPÖ zu erreichen. Mit diesem Kabinett begannen 13 Jahre, in denen Kreisky allein regierte.
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