Wienerin in Kolumbien: "Ich dachte nie an eine Rückkehr"
Doña Lilly kennt in Bogotá jeder. Energisch führt die 97-Jährige die älteste Buchhandlung Kolumbiens, die Librería Central und die Kunstgalerie „El Callejón“ im mondänen Stadtteil Chico. Ans Aufhören denkt die rüstige Dame nicht, sie macht die Bestellungen, berät Kunden und weiß über Neuerscheinungen Bescheid, international, versteht sich. Die Bestseller-Listen hortet sie in ihrem Schreibtisch, auch ihr jahrzehntealtes Telefonbuch. Der Schreibtisch ist ihr Platz. „Ist der Spiegel schon gekommen?“, ruft sie durch den Raum. „Nein“, antwortet die Angestellte. „Mit den Zeitungen aus Europa gibt es immer Probleme, auch das profil kommt nicht mehr“, ärgert sich Lilly Ungar. Das Telefon läutet, sie hebt ab, mühelos wechselt sie zwischen Spanisch, Englisch und Schönbrunner Deutsch hin und her.
Flucht 1939
Neugierig will die gebürtige Wienerin jüdischer Herkunft wissen, wie es um Österreich steht. Nur zögernd spricht sie über ihre eigene Geschichte. Mit 17 Jahren kam sie mit Vater und Zwillingsschwester im Sommer 1939 in Kolumbien an. Mit Mühe bekam die Familie noch ein Visum. Mit dem Zug ging es Anfang 1939 nach Rotterdam, von dort mit dem Schiff nach Barranquilla und den Magdalena-Fluss entlang nach Medellín. „Wir sind gut aufgenommen worden in Kolumbien, das Land war gut zu uns.“ Auch wenn nicht alles gut ist in dem Kaffee-Staat, „die Menschen sind offen und herzlich“. Lilly Ungar blickt auf, lässt sich einen Kaffee Tinto servieren. Ihre Stimme wird leiser: „Was mich immer noch verletzt, das waren die Antworten meiner Schulfreundinnen, nichts gewusst zu haben. Als Hitler gekommen war, stellte sich heraus, dass sehr viele in der Klasse Illegale waren. Auch später sagten sie mir, nichts gewusst zu haben.“
Nachtragend ist Lilly Ungar nicht, sie will Österreich auch nicht kritisieren, „aber keiner hat gesagt, wir haben uns geirrt, das war ein Fehler“. Das nie gehört zu haben, das schmerzt sie bis heute. Von ihren Schulfreundinnen des Gymnasiums in der Hietzinger Wenzgasse hätte sie sich eine ehrliche Antwort erwartet. Vergebens. Heute leben noch ein oder zwei aus ihrer Klasse. Als jüdische Schülerin wurde sie nach der Machtübernahme Hitlers verfolgt. „Die Matura konnte ich gerade noch mit vielen Schwierigkeiten machen.“
Aufgewachsen ist sie in einer wohlhabenden Familie, der Vater besaß die Strumpffabrik Friedrich Bleier & Company in Wien-Mariahilf. Die Mutter starb früh. Nach dem Einmarsch der Nazis verloren sie alles, das Unternehmen, die Wohnung am Loquaiplatz und das Auto wurde von den Nazis geraubt.
Dass die Bleiers der Nazi-Diktatur entkommen konnten, und das Fluchtziel Kolumbien war, ist Lillys älterem Bruder Raoul Bleier zu verdanken. Er besuchte Anfang 1938 einen österreichischen Freund in Kolumbien – und er blieb, als die Nazis einmarschierten.
Drei Monate dauerte die Passage von Rotterdam nach Barranquilla. „Ich habe schon auf dem Schiff Spanisch gelernt“, erzählt Lilly Ungar. In Medellín, wo der Bruder bereits die Vertretung eines großen US-Unternehmens hatte, fand sie sofort Arbeit. „Ich konnte Sprachen, der Besitzer einer Textilfabrik stellte mich an und überantwortete mir die Scheckbücher für das Ausland. Er hat mir viel Vertrauen entgegengebracht.“
Bald zog die Familie nach Bogotá, wo Lilly Bleier ihren Mann, Hans Ungar, auf einer Zugfahrt kennenlernte. Er kam im Sommer 1938 nach Kolumbien. Auch er musste vor den Nazis fliehen, sein Bruder wurde sofort nach dem so genannten Anschluss verhaftet und ins Konzentrationslager transportiert. Die Eltern folgten. Alle wurde von den Nazis in Auschwitz-Birkenau ermordet, Hans Ungar überlebte als einziger der Familie den Holocaust.
Erfolg in neuer Heimat
Hans Ungar übernahm in den 1940er Jahren die Librería Central und baute sie gemeinsam mit seiner Frau Lilly zum internationalen Treffpunkt in Bogotá auf. Intellektuelle, Künstler, Staatspräsidenten und Minister gehen hier ein und aus. Eine Rückkehr nach Österreich kam für Lilly Ungar nie in Betracht. „Ich dachte nie daran, mein Mann schon. Er war sehr verbunden mit Österreich.“ Sie ist aber ist skeptisch: „Ich halte es für möglich, dass sich die Geschichte wiederholt.“
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