Virtuelles Mahnmal gibt Opfern ein Gesicht
Ich vermute, das sind Tränen.“ Die dicht beschriebenen Zeilen sind mit blauen Klecksen übersät. Der Brief stammt aus der Feder von Elisabeth Hedrichs Mutter, geschrieben 1944 in einem bayerischen Zuchthaus, bestimmt für ihre Familie, Monate nach der Hinrichtung ihres Mannes Friedrich.
„Wer diesen Verlust nicht erlebt, der kennt den Schmerz nicht“, schreibt sie.
Elisabeth, heute 74, war drei Jahre alt, als die Nationalsozialisten ihre Eltern 1941 in Wien abholten. Der Vater, ein Kommunist, kehrte nie mehr heim, ihre ebenso politisch engagierte Mutter erst Jahre später.
Solche Schicksale finden sich in keinen Statistiken. Zahlen zeigen die Dimension des nationalsozialistischen Massenmords auf, lassen aber die individuellen Geschichten im Dunkeln zurück. Den Ziffern hat das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) ein Gesicht gegeben – wenn es auch ein erschütterndes ist. Insgesamt wurden 75.000 Schicksale aus der NS-Zeit digital dokumentiert (www.doew.at).
„Erfahrbar machen“
Diese Woche präsentierte der Verein eine neue Datenbank über Opfer politischer Verfolgung. 8000 Namen von Männern und Frauen, Kommunisten, Sozialdemokraten, Konservativen, Homosexuellen und im NS-System Unangepassten sind darin gelistet, teils unterlegt mit Bildern und Dokumenten. „Wir machen damit Schicksale erfahrbar“, erklärt Brigitte Bailer, wissenschaftliche Leiterin des DÖW (siehe Interview).
Es sind Geschichten wie jene der Hedrichs. „Ich habe all das seit der Pubertät weggeschoben“, erzählt Tochter Elisabeth. Die Chemikerin ging kurz vor ihrer Pensionierung auf Spurensuche.
In den 1930er-Jahren wurden diese Momente immer seltener. Der KJV wurde verboten. Der Elektroinstallateur und die Schreibkraft blieben aktiv. Bei einer Störaktion vor einem Nazilokal erlitt „Jungarbeiter Hedrich“ einen „Beindurchschuss samt Knochenbruch“, berichtete 1932 die kommunistische Postille „Rote Fahne“.
Vier Jahre später, die Austrofaschisten hatten sich längst aller demokratischen Einrichtungen entledigt, saß er zwei Jahre wegen „Einrichtung einer illegalen Druckerei“ in Haft. Später agierte er im Untergrund. „Sie haben diskutiert, was sie gegen das NS-Regime tun könnten. Mehr war das nicht“, erfuhr die Tochter.
Im Oktober 1941 beginnt das bitterste Kapitel, das sie über das Leben ihres Vaters recherchiert hat: Verraten von einem Spitzel, gefoltert von Gestapo-Schergen.
Der berüchtigte Senat V. des Deutschen Volksgerichtshofes verurteilte beide 1943 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“: Ernestine zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe, Friedrich, 29 Jahre jung, zum Tode. Fünf Monate später wurde er geköpft.
Herausforderung
Das ist 69 Jahre her. In diesen Tagen jährt sich der „Anschluss“ Österreichs zum 75. Mal. In der Erinnerungsarbeit wird eine Frage immer drängender: Wie soll die NS-Zeit vermittelt werden, wenn die Ereignisse immer weiter wegrücken und die Träger von Erinnerung wegsterben? Dokumentierte Schicksale können beitragen, diese Lücken zu füllen, glaubt Gerhard Kastelic, 72, Vize-Präsident des DÖW. „Entscheidend bleibt, dass auch zukünftige Generationen wissen, was da los war.“
Kastelics Vater Jakob ist einer der 8000 Einträge in der Datenbank gewidmet. Er stammte aus den Reihen der Vaterländischen Front. Ein überzeugter Christ, der mit Gleichgesinnten die Ära nach dem Nationalsozialismus durchgeplant hatte. So beschreibt sein Sohn die Ziele des Vaters, auf die im Juli 1940 die Gestapo aufmerksam wurde. Der Volksgerichtshof verurteilte den Juristen, 47, wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode: Vollstreckt am 22. August 1944. „Ich sah meinen Vater drei Mal: Am Tag, als meine Mutter an Lungenentzündung starb. Am Tag der Verhandlung, und einen Tag vor der Exekution. Ich war drei Monate alt, als er inhaftiert wurde. Von Erinnerung kann ich gar nicht sprechen.“
Auch Elisabeth Hedrich kennt ihren Vater nur aus Erzählungen. Jahre später musterte ihre Mutter die Gefängnisbriefe. Sie öffnete zufällig zwei zusammengeklebte Fotos. Am Bild waren Elisabeth und ihr Bruder, auf der Rückseite schrieb ihr Vater: „Meine lieben Haserln! In meinen letzten Stunden schau ich in Eure lieben Guckerln und drück Euch an meine Brust. - Denkt öfter an mich und wenn es im Leben einmal hart geht, dann haltet den Kopf hoch. Die paar Jahre, die ich mit euch und eurer Mama verlebt habe, waren die schönsten in meinem kurzen Leben. Die Liebe zu den Menschen und zur schönen Welt war mein Leitmotiv. Seid nicht verbittert, das Leben ist nur schön durch Liebe.“
KURIER: Das ist ja die Schlüsselfrage: Warum leisteten manche Widerstand gegen das NS-Regime und andere schwammen mit dem Strom?
Brigitte Bailer: Sehr viele Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen waren schon vor dem Anschluss politisch aktiv gewesen. Es gab aber ein breites Spektrum an Motivationen: Es beginnt bei der politischen und religiösen Überzeugung und geht bis hin zu Mitleid mit Verfolgten und spontanen Aktionen.
Die neue DÖW-Datenbank umfasst rund 8000 von geschätzten 9500 politisch verfolgten und ermordeten Opfern. Das waren nicht nur Widerstandskämpfer.
Politische Verfolgung ist für uns jede Form der Bestrafung, die über das rechtsstaatliche Maß hinausgeht beziehungsweise auf typisch nationalsozialistischen Gesetzen beruhte. Das betraf jegliche organisierte Form des Widerstands, etwa Kommunisten, Sozialdemokraten aber auch Katholiken. Es gab jene, die das NS-System aus politischen oder religiösen Gründen ablehnten. Es gab aber auch die Unangepassten, die etwa treu-deutsche Kleidungsvorschriften missachteten. Ins Visier der Gestapo kamen weit mehr als 100.000 Menschen.
Sie wurden in diesem Sinne nach der Befreiung vor allem außenpolitisch instrumentalisiert. Das ist aber rasch abgeflaut. Offiziell hieß es zwar, dass die Helden des Widerstandes zu ehren waren. Aber in der Bevölkerung wirkte die nationalsozialistische Propaganda weiter. Nach dem Motto: KZler waren ohnehin mehrheitlich Verbrecher und jetzt verschaffen sie sich ungerechtfertigte Privilegien.
Oft ist das DÖW die erste Adresse für Recherchen. Gibt es noch viele, die kaum etwas über den Tod ihrer Verwandten wissen?
Ja, vor allem im Bereich der Schoah-Opfer. Die Leute wissen zwar, dass ihre Vorfahren ermordet wurden. Bei uns erfahren sie, wie und wo sie ermordet wurden.
Verlieren Sie durch das Erforschen solcher Schicksale nicht ihren Lebensmut?
Wenn es um Zahlen geht, dann baut man eine Distanz auf. Sobald man aber in Einzelschicksale eintaucht, ist es nach wie vor schrecklich.
Das DÖW beobachtet auch aktuelle rechtsextremistische Tendenzen. Sehen Sie einen Grund zur Beunruhigung?
Es gibt einen überschaubaren Bereich junger, militanter, durchaus auch gewaltbereiter Neonazis. Allgemein ist der Rechtsextremismus zurückgegangen. Grund ist sicher auch, dass die Behörden sensibler wurden. Eines muss man klar sagen: So manche Rechtsextreme haben bei der FPÖ einen bequemen Unterschlupf gefunden.
„Wir haben am Samstag, den 11. März 1938, auf die Straße geschaut, als die Leute von Pötzleinsdorf zum Ring marschiert sind“, erinnert sich George Newman. „Als sie gesehen haben, dass da Leute am Fenster stehen, die nicht ,Heil Hitler‘ rufen, haben einige in unsere Richtung die Fäuste geballt und gesagt: ,Wir werden es euch schon noch zeigen.’“
Als Newman diese Szene erlebte, hieß er noch Hans Neumann und wohnte in der Gersthofer Straße 105 im 18. Wiener Gemeindebezirk. Der damals 14-Jährige war nicht zum ersten Mal mit Judenfeindlichkeit konfrontiert – schon in seiner Schule, dem Döblinger Gymnasium, habe man „gewusst, welche Lehrer Antisemiten sind“, erzählt er.
Literarisches Erbe
Hans’ Vater Paul Neumann war Rechtsanwalt und zugleich „Syndikus“ (Geschäftsführer) des renommierten Paul Zsolnay Verlages, in dem zentrale Werke der österreichischen Literatur erschienen. Während Hans und seine Mutter bereits am 14. März über Belgien zu Verwandten nach England flohen, blieb Paul Neumann wegen geschäftlicher Verpflichtungen noch in Wien – und wurde eine Woche nach dem „Anschluss“ inhaftiert. „Bist leidbereit und neuen Wegemutes/Und nur noch Fracht auf Gottes Zukunftsfähre“, heißt es in einem Gedicht, das er in seiner Zelle verfasste.
„Im Mai gab es dann eine kleine Welle von Entlassungen“, erinnert sich Newman. „Mein Vater bekam die Anweisung, innerhalb von sechs Wochen zu emigrieren. Sonst wäre er wohl nach Dachau gekommen.“
Die Tätigkeit seines Vaters bei Zsolnay war es auch, die Newman vergangene Woche wieder nach Wien brachte: Die Familie konnte 1938 wertvolle Bücher und Manuskripte, darunter eine Erstausgabe von Arthur Schnitzlers „Reigen“ mit persönlicher Widmung des Autors, ins Exil bringen. Nun hat die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) die Schriften erstanden; George Newman war Ehrengast bei der Eröffnung der Ausstellung „Nacht über Österreich“ in der ÖNB. Dass er dort Bundespräsident Heinz Fischer treffen konnte, bedeutete dem bald 90-Jährigen viel.
Nachwirkungen
Die Kultur Wiens wirkte in der Familie bis heute nach: George Newman, der seit seiner Jugend leidenschaftlich Geige spielte, wurde nach seinem Studium in Oxford Musikverleger. In den 1980ern war er auch Londoner Kulturkorrespondent für den KURIER. Newmans Tochter Helena ist heute Leiterin der Abteilung „Impressionismus & Moderne“ beim Auktionshaus Sotheby’s und Spezialistin für österreichische Kunst um 1900. Zuletzt organisierte sie die Rekord-Auktionen von Werken Egon Schieles aus dem Leopold-Museum.
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