Dollfuß-Verwandte: "Man muss beide Seiten kritisch sehen"

Dollfuß-Verwandte: "Man muss beide Seiten kritisch sehen"
Ob im Umgang mit dem Dollfuß-Museum oder beim Blick auf die Geschichte: Historiker und Dollfuß-Nachfahren haben sehr unterschiedliche Ansichten.

Im kleinen Geburtshaus des ehemaligen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß in Texingtal befand sich seit 1998 ein Museum. Öffentlich relevant wurde das Haus, als Gerhard Karner (ÖVP) zum Innenminister ernannt worden ist.

Der Vorwurf gegen Karner, zuvor Bürgermeister der Gemeinde im Bezirk Melk: Das Museum beleuchte Dollfuß zu unkritisch und sei eine Pilgerstätte. Schlussendlich beauftragte Texingtal eine Projektgruppe aus Historikern, ein neues Konzept entwerfen. Die Historiker vom zuständigen Verein MERKwürdig schlugen vor, das Museum bis 2028 „konstruktiv“ aufzulösen. Heißt: Exponate schrittweise entnehmen und gemeinsam mit der Bevölkerung historisch einordnen.

Historiker nach Räumung entsetzt

Das hat weder Leihgeber, also Dollfuß’ Erben und den NÖ Bauernbund, noch die Gemeinde überzeugt. Am 19. Jänner wurde das Museum beinahe gänzlich geräumt, die Stücke den NÖ Landessammlungen übergeben, die sie vorerst verwahrt. Die Historiker zeigen sich in einem Brief entsetzt. Das Vorgehen der Gemeinde sei äußerst befremdlich und bedenklich.

Doch warum wollten die Dollfuß-Nachfahren das neue Konzept nicht mittragen? 

"Es war keine Huldigungsstätte"

Dollfuß-Nachfahrin Josefa Göschl hat dem KURIER geschrieben: „Wer je dieses Museum besucht hat, weiß, dass es weder ein Wallfahrtsort noch eine Huldigungsstätte ist – vielmehr eine mit Gegenständen ausgestattete Biografie.“ Historiker Ernst Langthaler – im wissenschaftlichen Beirat des Vereins – sieht das anders. Das Haus sei eine „als Museum behübschte Gedenkstätte“ gewesen, die „eine wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung vermissen ließ“.

Was wiederum Göschl vermisst: Im Zusammenhang mit Dollfuß werde nie „das Ganze“ gesehen. Sie verweist auf seine agrarpolitischen Neuerungen – etwa die Sozialversicherung für Bauern. Dollfuß habe das Leben der Österreicher verbessern wollen und die 1930er seien eine „extrem schwierige“ Zeit gewesen, so Göschl: „Wirtschaftskrise, Hunger und Not haben das Land gespalten. In den zwei Jahren bevor Dr. Dollfuß Kanzler wurde, sind sage und schreibe fünf Kanzler an dieser schweren Aufgabe gescheitert.“

„Dass es Dollfuß lediglich um die Freiheit Österreichs ging, ist ein beliebtes Entlastungsargument“, sagt Langthaler. „Dollfuß war in erster Linie bestrebt, die Macht seiner Gegner – vor allem der Sozialdemokraten, aber auch der Nationalsozialisten – zu schwächen und seine eigene, mit der Selbstständigkeit Österreichs verbundene Macht zu stärken.“ Dafür habe er sich faschistische Bündnispartner wie Italiens Diktator Benito Mussolini gesucht.

Am 19. Jänner 2024 wurde das Dollfuß-Museum geräumt

"Man muss beide Seiten kritisch betrachten"

Göschl war mit der Neukonzeption des Museums letztlich nicht einverstanden, da es keinen Platz für „mehrere Meinungen“ geboten habe. Man müsse beide Seiten kritisch betrachten. Bei den Februarkämpfen 1934 – zwischen dem sozialdemokratischen Schutzbund und Polizei, Bundesheer sowie Heimwehr – werde etwa nie erwähnt, dass schwer bewaffnete Personen aus den Arbeiterwohnungen auf Polizisten geschossen hätten.

Langthaler sagt dazu: „Der halbherzige Aufstand des Schutzbundes wurde klar von der Regierungsseite provoziert. Die Aufständischen verschanzten sich in Arbeiterwohnbauten, weil sie dort Zugriff auf Räume hatten.“

„Versöhnung setzt Einsicht voraus“

Josefa Göschl schreibt abschließend: „Warum spricht nach 90 Jahren Diskussion über dieses Thema niemand von Versöhnung? Versöhnung zwischen den Parteien – Versöhnung mit der Geschichte. Wichtig wäre doch, daraus zu lernen und gemachte Fehler zu vermeiden.“

„Ein mit öffentlichen Mitteln finanziertes Museum darf die wissenschaftlich gesicherten Tatsachen nicht missachten“, meint Langthaler und fügt hinzu: „Die immer wieder kolportierte Meinung, Dollfuß sei kein Diktator gewesen, widerspricht den Tatsachen. Versöhnung setzt Einsicht voraus.“

Wie sieht das die Nachfahrin? „Zur Versöhnung müssen beide Seiten bereit sein.“

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