Die neuen Leiden des roten Wien
Die Schrecksekunde dauerte diesmal ungewohnt lange. In der Nacht auf Montag war bei einem Gipfel im Bundeskanzleramt besprochen worden, dass die Wien-Energie sofort 1,7 Milliarden Euro benötige, um weiter Geschäfte an der Strombörse tätigen zu können. Erst rund 24 Stunden später trat mit Stadtrat Peter Hanke das erste hohe Mitglied der roten Stadtregierung im Fernsehen an die Öffentlichkeit, um zumindest zu versuchen, diese dramatische Entwicklung zu erklären. Zu diesem Zeitpunkt war bereits davon die Rede, dass der Bedarf bis zu zehn Milliarden ausmachen könnte.
Es vergingen weitere Stunden, ehe sich auch Bürgermeister Michael Ludwig öffentlich zu Wort meldete und der normalerweise starke Kommunikationsapparat der Stadt gefestigt mit einer eigenen Erzählung aufwarten konnte: Alle Schreckensmeldungen seien nur ein parteipolitisches Manöver der ÖVP-Bundesregierung, es wären ganz normale Geschäfte am Strommarkt, der allerdings verrückt spiele, es habe keine Spekulation gegeben.
Mit dieser Version wurde auf allen Ebenen ausgerückt, vor allem mithilfe von unzähligen Postings auf den sozialen Kanälen.
Doch ist damit die tiefe Wunde, die die Wien Energie-Affäre der roten Bundeshauptstadt zugefügt hat, wieder geheilt? Kann das Rathaus, kann die Wiener SPÖ in alter Stärke wieder zur Tagesordnung übergehen? Manche glauben das, etwa der Partei-Insider Joe Kalina: „Die Wiener SPÖ ist der ÖVP zu Beginn zwar ins Messer gelaufen, aber sie ist dadurch nicht geschwächt worden.“
„Schädliche Debatte“
Von anderen Beobachtern wird das Gegenteil angenommen. Die Milliarden-Diskussion rund um den Energieversorger, der zu 100 Prozent der Stadt gehört, habe deren Position geschwächt. Der Politologe Anton Pelinka beurteilt das so: „Sicher ist, dass Michael Ludwigs bis jetzt ungefährdete Stellung in der Partei und in der Wiener Kommunalpolitik eine erste Schramme bekommen hat.“ Wie sich das weiter entwickelt, hänge davon ab, ob andere Themen, die etwa die Bundesregierung belasten, wieder in den Vordergrund rücken. Oder ob sich innerhalb der SPÖ Ludwig-kritische Kräfte bemerkbar machen, um den Wiener Parteivorsitzenden zu schwächen. Pelinka: „Der Schaden ist da. Wie tief er sitzt und wie lange er andauert, ist seriös nicht vorhersehbar.“
Weniger zurückhaltend beurteilt das Politanalyst Thomas Hofer. Für ihn ist es „ganz sicher“, dass die Wien Energie-Debatte das rote Wien schwer getroffen hat. Hofer: „Gerade für SPÖ-Gruppen ist das eine schädliche Debatte.“ Spekulationen seien ein Eliten-Thema zu einer Zeit, in der die Bevölkerung auf die Stromrechnung blicke und teilweise mit der Existenz kämpfe. Es sei auch für die Bundes-SPÖ eine Schwächung, weil ihr das Narrativ, nur Sozialdemokraten würden Lösungen gegen die Teuerungsspiralen haben, zerstört sei. Darunter würden jene Landesparteien – speziell der Innsbrucker Georg Dornauer und der St. Pöltner Franz Schnabl – leiden, die einen Landtagswahlkampf führen müssen.
Tatsächlich hatte Bundesparteiobfrau Pamela Rendi-Wagner zuletzt bei jeder Energie-Debatte mit dem Hinweis auf Wien zu kämpfen. Bei ihrem ORF-Sommergespräch gingen ihr diesbezüglich sogar die Antworten aus. Dazu kommt, dass das Thema just aufgetaucht ist, als gerade der ÖGB mit Vorschlägen gegen die Teuerung in die Offensive gegangen war und prompt durch die Ereignisse konterkariert wurde. Hofer: „Die Gewerkschaft wird darüber nicht sehr erfreut sein.“
In der SPÖ-Bundeszentrale in der Löwelstraße kann man über eine Schwächung der Wiener Genossen nicht glücklich sein. Die Wiener SPÖ und der ÖGB sind die letzten starken Säulen der Partei. Dennoch wurde die Entwicklung in manchen Bundesländern mit ein wenig Genugtuung gesehen. Dort ärgert man sich schon lange, dass der Liesinger Kreis um die 2. Nationalratspräsidentin Doris Bures und Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch – im Hintergrund noch Ex-Kanzler Werner Faymann – mit Bürgermeister Michael Ludwig alle großen Themen und Personalentscheidungen in der Partei dominieren oder gar im Alleingang beschließen. Deswegen sieht man in der Schwächung der Wiener nun die Chance, stärker innerhalb der Partei auftreten zu können.
Geändert hat sich auch das Verhältnis zwischen Regierung und Stadt. Vor allem während Corona musste der Bund zerknirscht zur Kenntnis nehmen, wie sich Ludwig und seine SPÖ als starker Gegenpart profilierten. Jetzt verweist man – für manche ÖVP-Funktionäre mit zu großer Zurückhaltung – auf die Schwächen der Wiener. Mit der Konsequenz, dass jene schwarzen und roten Funktionäre, die gerne wieder eine Große Koalition hätten, vorerst wenig Gehör finden.
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