Kanzler Kurz will bei Grünem Pass nicht auf die EU warten
KURIER: Nach dem ersten Lockdown zu Ostern vor einem Jahr wurde behutsam im Zwei-Wochen-Takt schrittweise geöffnet, auch um feststellen zu können, was schadet und was nicht. Warum wird jetzt alles auf einmal geöffnet?
Sebastian Kurz: Sie haben das ja schon selbst beantwortet. Vor einem Jahr hatten wir einen ganz anderen Wissensstand. Man wusste weniger über die Krankheit, man wusste weniger, wie die Ansteckungen stattfinden. Zum anderen haben wir heute andere Tools zur Verfügung, die wir damals nicht hatten. Heute haben wir die FFP2-Masken und breitflächige Testangebote. Und das ist ein riesiger Qualitätsunterschied. Öffnungen ohne Sicherheitsmaßnahmen wären auch jetzt nicht möglich.
Bundeskanzler Sebastian Kurz zu Gast im Checkpoint bei Richard Grasl
Jetzt freuen sich sicher 90 Prozent der Menschen über die Öffnung am 19. Mai. Andere sagen aber auch, dass das zu schnell geht. Die haben vielleicht im Kopf, dass man eine Inzidenz von 50 erreichen wollte. Wir liegen jetzt bei 180, auch in Vorarlberg über 200. Was sagen Sie denen, die nicht verstehen, dass nun 200 für eine Öffnung reicht und nicht mehr die 50er-Grenze gilt.
Ich glaube, es ist wichtig, nicht nur auf eine Zahl zu schauen, sondern mehrere Kennzahlen und Fakten immer im Blick zu haben. Denn wir wissen, dass ältere Menschen wesentlich öfter einen schweren Verlauf haben als jüngere Menschen. Dazu kommt die stark steigende Zahl an Impfungen. Daher ist es anders als vor einem Jahr. Vor einem Jahr hatten wir einen Bruchteil der Tests. Das heißt, die Dunkelziffer war irrsinnig groß. Heute haben wir so viele Tests wie kaum ein anderes Land der Welt, und dadurch ist die Dunkelziffer natürlich wesentlich geringer. Entscheidend für den Termin Mitte Mai war, dass zu diesem Zeitpunkt bereits drei Millionen Menschen geimpft sind. Das heißt, alle älteren Menschen werden die Möglichkeit gehabt haben, sich impfen zu lassen, wenn sie das wollen.
Diese drei Millionen sind aber nur ein Drittel der österreichischen Bevölkerung. Es gibt sechs Millionen, die nicht geimpft sind, die vielleicht nicht, weil sie jünger sind, sterben oder auf die Intensivstation kommen, aber durch Long-Covid eine langwierige Erkrankung haben werden. Droht diesen Menschen nun eine größere Gefahr?
Ich würde das nicht automatisch sagen, denn jeder hat ja die Möglichkeit, sich selbst sehr gut zu schützen. Das ist ja eine Frage des Wollens. Es gibt FFP2-Masken in Österreich zum Selbstkostenpreis. Das gab's vor einem halben Jahr noch nicht. Und wenn sie eine FFP2-Maske tragen, dann sind sie sehr gut geschützt. Die verwenden Ärzte, die täglich mit Patienten zu tun haben. Und insofern glaube ich, dass wir einfach alles im zeitlichen Rahmen einordnen müssen. Aber es gibt doch das Beispiel Deutschland. Da ist seit Monaten alles geschlossen, und die Ansteckungszahlen sind gleich hoch wie bei uns. Das heißt, ich glaube, dass unser Weg, auf Tests zu setzen, auf Masken zu setzen, einfach absolut richtig ist.
Aber war das nicht auch alternativenlos? Die Menschen machen immer weniger mit, halten sich weniger an die Regeln, weil ihnen das soziale Leben abgeht, weil ihnen abgeht, einmal ins Gasthaus mit ihren Freunden gehen zu können. War es nicht so, dass diese Öffnung mit Tests oder mit einem Grünen Pass in Wirklichkeit sogar die kontrollierte Variante ist als das, was sich zuletzt abgespielt hat?
Nein, alternativlos ist gar nichts, sondern man muss versuchen, das Richtige zu tun. Diese ganze Pandemie ist ständig der Versuch, die gesundheitliche Situation in Einklang zu bringen mit psychischen Aspekten in der Bevölkerung, aber vor allem auch der Arbeitsplatzsituation. Und uns war immer klar, sobald wir öffnen können, wollen wir das tun. Unser Motto war immer soviel Freiheit wie möglich, so wenig Einschränkungen wie notwendig. Und nachdem wir wissen, dass wir mit entsprechendem Fortschritt einfach bald die Pandemie besiegt haben werden, braucht es jetzt noch Sicherheitskonzepte, braucht es jetzt noch Vorsicht. Diese Phase von Mitte Mai bis Ende Juni werden wir vorsichtig mit Sicherheitskonzepten gestalten müssen. Aber ja, dank der Maske, dank der Tests, dank Abstandsregelungen ist bald mehr Freiheit möglich, wenn sich alle daran halten und alle bemühen.
Wie sicher waren Sie sich am Freitag? Wie ist diese Sitzung mit den Experten verlaufen? Gab es da überhaupt einen Zweifel daran, dass dieser 19. Mai vielleicht doch noch in den Juni hineingeschoben geschoben werden soll? Oder waren Sie und der Vizekanzler und der Gesundheitsminister eigentlich völlig klar auf der Linie, dass jetzt alles geöffnet wird?
Wir waren auf einer Linie. Wir haben das ja nicht gestern entschieden, sondern wir haben ja wochenlang daran gearbeitet, mit Expertinnen und Experten, mit Prognoserechnern. Und natürlich kann immer etwas Unvorhersehbares daherkommen. Das wissen wir bei dieser Pandemie mittlerweile. Aber nach menschlichem Ermessen, nach allem, was wir jetzt wissen, ist einfach davon auszugehen, dass die Situation auf den Intensivstationen besser wird. Alles deutet darauf hin, dass je mehr Menschen geimpft sind, vor allem je mehr ältere Menschen und Risikogruppen geimpft sind, desto weniger Menschen haben einen schweren Verlauf. Und natürlich wird es dazu kommen, dass die Ansteckungszahlen steigen, so wie wir das in Vorarlberg auch erlebt haben. Ist ja logisch. Mehr Leben bedeutet mehr Kontakt, bedeutet mehr Ansteckungen. Aber relevant war für uns immer: Es darf zu keiner Überlastung der Intensivstationen kommen. Das muss sichergestellt sein. Und ich gehe davon aus, dass das auch gelingen wird.
Kommen wir zum Grünen Pass, da waren Sie nicht auf einer Linie mit dem Gesundheitsminister, der sich nicht einbezogen gefühlt hat. Und viele zweifeln auch daran, dass sich das bis zum 19. Mai ausgeht.
Der Gesundheitsminister ist ja erst seit kurzer Zeit im Amt, und die Pandemie macht keine Pause. Die Vorbereitungen auf den Grünen Pass laufen seit einigen Monaten. Das Ziel ist, dass wir Gastronomie, Tourismus, Kultur sicher öffnen können. Das funktioniert nur, indem keiner hinein darf, der eine Gefahr für andere ist, und das muss dokumentiert sein. In der Regel sind das Getestete, aber immer mehr auch Geimpfte. Geimpfte müssen dann nicht mehr getestet werden. Das ist angenehm für die Menschen, aber auch ressourcenschondend für die Republik. Es ist eine Gleichstellung für Getestete, Geimpfte und Genesene.
Muss man den Grünen Pass extra beantragen oder bekommen man ihn automatisch zugeschickt?
Es wird ein automatisiertes System werden.
Viele haben sich in der ersten, ganz viele in der zweiten Welle infiziert. Bekommen auch sie dann einen Grünen Pass, obwohl die Infektion schon monatelang vorbei ist?
Das ist ein interessanter Punkt, was gilt wie lange? Für Getestete gilt das klarerweise am kürzesten - ein, zwei oder drei Tage, je nach Test. Jene, die Corona hatten, gelten für sechs Monate als immun. Und wer geimpft ist, kann drei Wochen nach dem ersten Stich den Grünen Pass haben. Am 19. Mai werden das drei Millionen Menschen sein. Sie müssen sich dann nicht mehr testen lassen, und die Zahl wird jeden Tag größer.
Bleibt für Geimpfte und Genesene die FFP2-Maskenpflicht?
Vorerst ja, dort wo es Sinn macht, im Theater beispielsweise. Im Gasthaus macht das beim Essen und Trinken keine Sinn. Aber bei Großveranstaltungen wird die Maske vorerst bleiben. Und im Sommer ist unser Ziel, mehr und mehr zur Normalität zurückzukehren und die Sicherheitsstandards zu reduzieren.
Der Gesundheitsminister meint, man solle mit dem Grünen Pass auf EU-Standards und eine europaweite Einführung warten. Hat er damit nicht Recht?
Man muss zwei Dinge auseinanderhalten. Zum einen ist Österreich hier Vorreiter. Wir sind hier schneller als andere und warten nicht auf die europäische Ebene. Ich finde es aber andererseits gut, dass es europaweit einen Grünen Pass geben soll, Israel hat auch schon einen. Aber das wird bis zum Sommer dauern, und darauf wollen wir in Österreich nicht warten. Wir sollten auch nicht glauben, dass der Pass in ganz Europa zu den gleichen Rechten führen wird. Es gibt eine Toolbox, und jedes Land kann daraus auswählen. Das heißt, in Griechenland wird das anders sein als in Deutschland oder Dänemark.
Sind Sie eigentlich froh, dass Wolfgang Mückstein Rudolf Anschober ersetzt hat? Man hatte diese Woche das Gefühl, dass es in der Zusammenarbeit runder läuft.
Wir haben rückblickend auf ein Jahr Pandemie als Regierung sehr gut zusammengearbeitet, auch mit den Sozialpartnern oder den Bundesländern. Tschechien hatte in dieser Zeit gleich drei verschiedene Gesundheitsminister. Natürlich hat es Diskussionen gegeben, und natürlich waren wir nicht immer einer Meinung. Aber sie merken ja auch, dass es die in der Bevölkerung auch gibt. Aber wir haben am Ende immer eine gemeinsame Linie gefunden, die wir beschlossen und auch vertreten haben. Und ich habe das Gefühl, dass die Zusammenarbeit mit dem neuen Gesundheitsminister gut angelaufen ist. Dass er Arzt ist, ist natürlich kein Nachteil für seine Rolle.
Haben Sie ihn auf auf sein Schuhwerk, seine Sneakers, angeredet?
Ich habe als Bundeskanzler in diesem Jahr deer Pandemie wirklich viele Sorgen gehabt und auch erstmals einige Nächte schlecht oder gar nicht geschlafen. Und wenn es etwas gibt, was mich wenig beschäftigt, sind das solche Banalitäten.
Sie haben zu einem Zeitpunkt, als wenig Impfstoff nach Österreich kam, vesucht, mit Russland einen Deal über die Lieferung von Sputnik-Impfdosen zu verhandeln. Ist das nun vom Tisch, weil im Juni schon mehr Impfstoff da sein könnte als impfwillige Bürger?
Nein, wir haben eine Vereinbarung getroffen, dass wir eine Million Dosen Sputnik beschaffen. Diese Dosen können dann verimpft werden, wenn es eine Zulassung der EMA gibt. Das ist natürlich hilfreich. Wenn die Zulassung rasch erfolgt, beschleunigt das das Impfen nochmals. Und darüber hinaus haben wir in der Pandemie die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, mehrere Standbeine zu haben. Es kann ja wieder einmal Lieferengpässe geben, Mutationen, bei denen ein Impfstoff nicht so gut wirkt. Oder es kann Impfstoffe geben, die von der Bevölkerung nicht so gut angenommen werden. Je breiter man aufgestellt ist, desto besser.
Irgendwann werden wir die Milliarden Schulden zurückzahlen müssen. Jetzt hat "profil" eine Umfrage veröffentlicht, in der eine Mehrheit Vermögens- oder Schenkungssteuern befürwortet. Bleiben Sie bei Ihrem Nein dazu auch nach dieser Krise?
Wir stehen als ÖVP klar zum progressiven Steuersystem. Personen, die viel verdienen, zahlen mehr, bis zu 50 Prozent ihres Einkommens. Das ist ein solidarisches System. Wir werden als Regierung daher den Weg weitergehen, den wir vor der Pandemie vereinbart haben, nämlich die Steuerlast in Österreich zu senken. Denn die entscheidende Frage ist, wie wir wieder Wirtschaftswachstum erzielen. Geringere Steuern helfen dem Wirtschaftsstandort, und den Menschen bleibt mehr zum Leben.
Aber die Staatsschulden werden dadurch nicht weniger...
Das ist ein nicht immer richtiger Ansatz. Denn entscheidend sind ja nicht nur die Schulden, sondern das Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, dem BIP. Und das ist durch Corona im Vorjahr um mehr als 6 Prozent eingebrochen. Das heißt, wir brauchen jetzt ein schnelles Wachstum, und das machen wir auch mit Steuerentlastungen, einer Investitonsprämie und einer ökosozialen und digitalen Transformation.
Eine Frage zu Ihrer Zukunft. Die deutsche Zeitung "Die Welt" handelt Sie diese Woche als chancenreichen Kandidaten für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten nach Ursula von der Leyen im Jahr 2024. War Ihr Einsatz für die Impfstoffverteilung in Bulgarien und Kroatien schon eine Wahlkampftour?
Da haben Sie mich falsch interpretiert. Ich habe mich bei der Impfstoffverteilung aus Gerechtigkeitsüberlegungen eingesetzt, weil ich der Überzeugung bin, dass es der richtige Ansatz ist, nach Bevölkerungsschlüssel zu verteilen und nicht nach anderen Kriterien.
Die klassische Frage eines Journalisten ist aber: Schließen Sie aus, 2024 Kommissionspräsident zu werden?
Ja, das kann ich ausschließen.
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