Landau: "Können niemanden mehr bei Lebensmittelausgabe aufnehmen"

PK 100- JÄHREM BESTEHEN DER CARITAS IN ÖSTERREICH: LANDAU
Michael Landau über mehr Caritas-Klienten, zu wenig Spenden und was er an den Anti-Teuerungsmaßnahmen der Regierung auszusetzen hat.

KURIER: Pandemie, Krieg in der Ukraine, Teuerung und jetzt Gasknappheit in Europa. Erinnern Sie sich im bald 20. Jahr als Caritas-Präsident an ähnlich herausfordernde Zeiten?

Michael Landau: Das ist eine belastende Mischung für sehr, sehr viele Menschen in unserem Land. Zum anderen habe ich einen Satz aus der Pandemie im Ohr, den jene Damen und Herren gesagt haben, die im Senioren-Haus leben, in dem ich auch Seelsorger bin.  "Wir haben schon so viel erlebt und überlebt, das werden wir auch noch schaffen.“

Schaffen wir das noch?

Gerade der Blick zurück zeigt, durch welch schwierige Situationen Österreich und Europa gegangen sind und wie viel wir gemeinsam zum Positiven verändern konnten. Was hat Österreich und Europa groß gemacht? Die Bereitschaft, zusammenzustehen, anzupacken und auf die Schwächsten nicht zu vergessen. Ich glaube, genau auf diese, unsere Stärken sollten wir jetzt fokussieren und uns nicht von Ängsten treiben lassen.

Wenn die Regierung Milliarden für Anti-Teuerungsmaßnahmen ausgibt, zeigt das eher wie prekär die Situation und dass manche Angst berechtigt ist…

Was uns natürlich Sorgen bereitet, das sind die langen Schlangen vor den Lebensmittelausgabestellen der Caritas. Die Nachfragen nach Lebensmittelpaketen sind erheblich gestiegen. 2021 haben wir allein in Wien durchschnittlich etwa 17 Tonnen an Lebensmittel pro Woche ausgegeben. Zurzeit  geben wir etwa 24 Tonnen aus. Wir haben also einen deutlich höheren Spendenbedarf als wir ihn derzeit decken können, was dazu führt, dass wir derzeit erstmals leider keine neuen Menschen bei der Lebensmittelausgabe aufnehmen können. In den 56 Sozialberatungsstellen zeigt sich ein ähnliches Bild. Allein in Wien haben wir um 30 Prozent mehr Anfragen als im Vorjahr, im Burgenland um 50 Prozent.  

Was beschäftigt Caritas-Klienten derzeit am meisten?

Viele Klienten kommen, weil sie ihre Strom- und Gasrechnungen einfach nicht mehr begleichen können. Es melden sich Menschen, die vor wenigen Monaten nie gedacht hätten, dass sie um Hilfe fragen müssen. Eine Mindestpensionistin, die sich 134 Euro mehr an Energie- und Heizkosten pro Monat einfach nicht leisten kann. Oder eine Alleinerzieherin, die sich überlegen muss, ob sie den Hort oder die Stromrechnung bezahlen soll.

Wird die Hemmschwelle oder Scham, karitative Einrichtungen zu besuchen, geringer, weil es mehr Menschen als früher betrifft?

Viele Menschen schämen sich, wenn sie um Hilfe fragen müssen. Aber gerade jetzt wissen wirklich viele Menschen schlicht nicht mehr weiter. Sie brauchen rasche und unbürokratische Hilfe, denn sie spüren die Inflation jetzt – bei jedem Einkauf, bei jeder Strom- und Gasrechnung. Das ist es auch, was ich an den Maßnahmen der Regierung kritisiere.

Die Hilfen kommen zu langsam an? Oder erachten Sie sich auch als zu gering?

Die Regierung hat ein Paket geschaffen, das einer großen Anzahl von Menschen hilft. Die Einmalzahlungen sind ein Rettungsanker, viele Bevölkerungsgruppen brauchen aber einen Rettungsschirm. Eine Erhöhung der Ausgleichszulage für Mindestpensionistinnen und -pensionisten noch heuer wäre dringend notwendig. Der Wertverlust bei der Familienbeihilfe müsste rückwirkend ausgeglichen werden. Es wäre eine Chance gewesen, Familienbonus und -beihilfe zu einer echten Kindergrundsicherung auszugestalten, damit die Zahl der armutsgefährdeten Kinder, die derzeit schon bei 320.000 liegt, geringer wird. Doch diese Chance hat die Regierung nicht wahrgenommen, obwohl sie sich dem Kampf gegen die Kinderarmut verschrieben hat.

Apropos Kinderarmut. Die Caritas macht seit Jahrzehnten auf Kinderarmut und Hungersnot in Afrika aufmerksam. Nun herrscht Dürre, der Krieg führt zu Weizenmangel in Afrika. In Europa steigen die Preise und die Spendenbereitschaft wird wohl bald sinken. Was steht Ihrer Meinung nach zu befürchten?

Die Klimakrise, die stockenden Getreideexporte aus der Ukraine und Russland verschärfen die Hungersnot immens. Derzeit hungern mehr als 800 Millionen Menschen. In den kommenden Monaten werden geschätzte 47 Millionen Menschen dazu kommen. Ich darf erinnern, dass die Kürzungen der Essensrationen des World Food Programmes für Syrien und die Nachbarländer wesentlich zur Eskalation am Kontinent und zu den Fluchtbewegungen 2015 beigetragen haben. Die Zukunft Europas ist eng mit der Zukunft Afrikas verbunden. Deshalb plädiere ich gerade jetzt wieder für einen Marshallplan mit Afrika.

Europa, Österreich hilft Ihren Worten gemäß zu wenig?

Mir fehlt von der Regierung das klare Bekenntnis zu einer langfristigen und nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit. Österreich ist weiter Schlusslicht, unterschreitet die geforderten 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe bei Weitem. Deutschland erreicht die 0,7 Prozent laut neuesten Berechnungen. Es ist also eine Frage des politischen Wollens, nicht des Könnens. Hunger ist ein Skandal, der zum Himmel schreit und der uns alle angeht.

Sie forderten diese humanitäre Hilfe und einen Marshallplan für Afrika schon unter Sebastian Kurz. Wie ist ihr Verhältnis zu seinem Nachfolger Karl Nehammer?

Ich kenne ihn noch aus seiner Zeit als Generalsekretär und Innenminister und habe die Gespräche mit Karl Nehammer in sehr positiver Erinnerung. Ich nehme wahr, dass beispielsweise beim Thema Pflege etwas wirklich Ernsthaftes auf den Tisch gelegt worden ist und weitergeht.

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