Die Glocke während der Bauarbeiten zu reaktivieren, würde Kosten von 500.000 britischen Pfund verursachen. Eine Gruppe konservativer Abgeordneter richtete eine Spendenplattform ein. "Big Ben must bong for Brexit" brachte zwar im Handumdrehen mehr als 250.000 Pfund zusammen, provozierte aber – ebenfalls im Handumdrehen – eine wütende Debatte. Da würden sich ein paar wohlhabende Anti-Europäer ihre Brexit-Party mit teuren Glockentönen schmücken, und die Regierung unterstütze das auch noch, meinte die Opposition.
Zerrissen und kopflos
Der Premier musste sich umgehend von der Spendensammlung, die er zuvor beworben hatte, distanzieren. Seit Tagen hängt die Sache nun in der Luft, ob Big Ben nun läuten wird, bleibt vorerst ungeklärt. Die beiden politischen Lager – Pro-Europäer und Brexiteers – sind wieder einmal unversöhnlich.
Die Big-Ben-Farce ist nur ein Symptom für die anhaltende Zerrissenheit und Kopflosigkeit, mit der das Land seit dem Brexit-Referendum 2016 in Richtung EU-Austritt schlingert.
Jede Affäre, der die Briten im normalen nationalen Gemütszustand mit Humor begegnen würden, wird zur erbitterten Grundsatzdebatte.
Megxit-Rassismus
So etwa auch der Abgang von Prinz Harry und seiner Frau Meghan aus dem offiziellen royalen Dasein. Beim Umgang mit der geschiedenen Schauspielerin zeigte sich die traditionell untergriffige britische Boulevardpresse wieder einmal von ihrer übelsten Seite. Genüsslich spielte man mit rassistischen Vorurteilen gegenüber der farbigen Amerikanerin. Unweigerlich artete diese mediale Grundstimmung in den sozialen Medien in ebenso wüste wie widerliche Beschimpfungen aus – bis es Meghan zu viel wurde.
Der "Megxit", eigentlich eine unterhaltsame royale Posse, wird plötzlich wütend diskutiert. Die liberale, meist auch pro-europäische Hälfte Großbritanniens verzweifelt am Rassismus der eigenen Landsleute, die Konservativen wieder einmal am Verfall des Königshauses.
Weltuntergangsstimmung
Der Optimismus, wie ihn Boris Johnson seinem Land für die Zeit nach dem Brexit verordnet hat, wird von Weltuntergangsstimmung überflügelt – und die grassiert in beiden gesellschaftlichen Lagern.
Die Liberalen entfremden sich von einem Land, in dem sie ihr geliebtes "Cool Britannia" nicht mehr finden, also das weltoffene, zukunftsorientierte Land, das weltweit Trends vorgibt. Die Konservativen dagegen flüchten in Nostalgie. Zwei Motive kennt die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten: Ein Großbritannien, das wie einst "die Meere beherrscht", wie es ja auch in der inoffiziellen Hymne „Rule Britannia“ heißt. Boris Johnsons Visionen von einem "globalen Großbritannien" bedienen diese Spielart von Vergangenheitsseligkeit. Die andere entdeckt das alte England wieder – und eine der Stimmen dieses Lebensgefühls ist der Historiker und Feuilletonist Dominik Sandbrook. Er schwärmt vom "England der Landstraßen und Landgasthäuser, der mittelalterlichen Kirchen, dem Land der zurückhaltenden Höflichkeit und des willensstarken Pragmatismus".
Think small
Der "kleine Engländer" nennt man in Großbritannien liebevoll-spöttisch diese Geisteshaltung. Die Flucht ins nostalgische Idyll als Antwort auf die Unsicherheit und Zerrissenheit, die der Brexit ausgelöst hat? Genau diese Sehnsucht nach der Vergangenheit habe die Brexit-Idee getragen, ärgert sich der Schriftsteller Ian Jack im Guardian: "Eine Generation, die süchtig nach Nostalgie ist, versucht Großbritannien zurück in die Vergangenheit zu schicken."
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