Bildungsexperte Salcher: "Keine verlorene, eine gespaltene Generation"
KURIER: Herr Salcher, es gibt Studien, die sagen, dass die vergangenen eineinhalb Jahre verloren waren – man hätte auch Sommerferien machen können. Und dann gibt’s Studien, wie eine aktuelle der OECD, die sagt, dass die Pandemie dem Bildungssystem sehr viele Chancen eröffnet hat. Was stimmt denn nun?
Andreas Salcher: Es stimmt beides. Die Pandemie hat die versteinerten Schulsysteme nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland über Nacht erschüttert. Interessanterweise sind die Deutschen schwächer als wir Österreicher. So war die Umsetzung der Teststrategie in den Schulen bei uns sehr erfolgreich. Aber in ganz Europa gibt es diese enorme Kluft zwischen Schulen, die relativ weit bei der Digitalisierung sind, und solchen Schulen, die im Kreidezeitalter stecken.
Bildungskritiker Andreas Salcher zu Gast im Checkpoint bei Ida Metzger
Das führte dazu, dass viele Schulen die komplette Bildungslast auf die Eltern, meist die Mütter, übertrugen. Waren die Mütter dann noch durch Homeoffice doppeltbelastet, durfte man sich nicht wundern, wenn viele Schüler zurückgefallen sind. Andererseits haben es Kinder, die sich selbst motivieren und organisieren konnten, durchaus geschätzt, den Tag freier einzuteilen und ihre Lernphasen eigenverantwortlich zu steuern. Die Pandemie hat die riesige Kluft zwischen den Bildungsschichten noch deutlicher gemacht.
Also war die Pandemie effektiver als zehn Jahre Lehrerfortbildung …
Viele Lehrer haben diese neuen Freiräume sehr wohl genutzt. Ich sehe die Zukunft nicht ausschließlich im digitalen Unterricht, wie wir ihn jetzt hatten, weil das soziale Lernen auf der Strecke bleibt. Die Digitalisierung kann für die Lehrer eine Befreiung von der klassischen Wissensvermittlung sein. Diese wird viel stärker von interaktiver Lernsoftware und Lernvideos geleistet. Der Vorteil ist, dass jeder Schüler in seiner eigenen Geschwindigkeit lernen kann und unmittelbares Feedback erhält. Wenn der Schüler ein Thema gut beherrscht, kommt er auf das nächste Level. Wenn er etwas noch nicht versteht, erhält er Erklärvideos. Der Lehrer bekommt über jeden Schüler Rückmeldung, wo dieser gerade steht, und kann so den Lernprozess viel individueller gestalten. Das ist die große Chance, die ich sehe: High Tech – High Touch.
Im Herbst startet endlich die Ausstattung der Schulen mit Endgeräten. Ein großer Fortschritt?
Es wird jetzt viel über Infrastruktur, Selbstbehalte, Finanzierung usw. diskutiert. Dabei ist die größte Herausforderung keine technologische, sondern eine pädagogische: Wie bereiten wir die Lehrer auf ihre neue Rolle vor? Letzten Sommer hat das Bildungsministerium Lehrerfortbildung zur Digitalisierung angeboten. Von den 120.000 Lehrern haben sich 12.000 angemeldet und 6.500 den Kurs abgeschlossen. Fazit: Ohne verpflichtende digitale Fortbildung nutzen die schönsten Laptops nichts.
Was macht Sie so zuversichtlich, dass es im Herbst keinen Rückfall in das alte System gibt?
Ich sage nur, dass die Chance da ist. Das Schlimmste wäre, wenn jetzt alle im September ihre Freude zelebrieren, dass sie wieder in der Schule sein können. Hier müssen auch die Eltern wachsam sein und dürfen nicht nur glücklich über die Erleichterung ihres Alltags sein. Gute Schulen werden die Chance für einen echten Neubeginn nutzen. Schulen, die noch immer tief im Zeitalter der frontalen Stoffvermittlung mit Tafel und Kreide stecken, werden dagegen noch weiter zurückfallen. Es gibt in unserem Schulsystem leider überhaupt kein funktionierendes Qualitätsmanagement. Schlechte Schulen, und die gibt es, brauchen Anreize, um sich weiterzuentwickeln, aber im Ernstfall muss es auch Konsequenzen geben, wie eine neue Schulleitung. Nur die ständige Forderung nach mehr Geld und mehr Lehrern bringt nachweisbar nichts. Wir haben bereits das zweitteuerste Schulsystem der Welt.
Sie haben davon gesprochen, dass Kinder zurückgefallen sind. Vor allem Kinder von bildungsfernen Eltern waren in der Pandemie für die Lehrer nicht erreichbar. Nun plant der neue Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr gerade einen Kahlschlag im Schulsystem, wo Integrationsklassen gestrichen werden sollen …
Grundsätzlich hat Bildungsstadtrat Wiederkehr recht, wenn er zugibt, dass selbst seine Experten dieses völlig intransparente System der Ressourcenzuteilung nicht mehr durchschauen. Nur ist das Problem nicht mit Mikromanagement lösbar: da nehme ich eine Pädagogin weg und gebe dafür dort einen Unterstützungslehrer dazu. Denn was sollen die Volksschullehrer mit Kindern machen, die noch nie eine Schere oder einen Buntstift in der Hand gehalten haben, die Deutsch, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft beherrschen, aber dafür Netflix-Serien kennen. Vielleicht geht das noch, wenn man drei oder vier Kinder mit diesen Defiziten in der Klasse hat, aber nicht, wenn 80 bis 90 Prozent in Brennpunktschulen in den Klassen sitzen. Man kann und muss das Problem im Kindergarten lösen. Wir geben viel zu viel Geld für die mittleren und oberen Stufen aus, und wir investieren viel zu wenig Geld in die Elementarpädagogik. Zusätzlich braucht es Anreize, aber auch Sanktionen für Eltern, die den Schulerfolg ihrer Kinder nicht unterstützen, indem sie z. B. nicht einmal zu Elternsprechtagen kommen. Wenn man das nicht tut, produziert man 20 bis 30 Prozent einer Generation, die nach neun Jahren Schule nicht sinnerfassend lesen können und die Grundrechnungsarten nicht beherrschen. Das ist nicht nur wirtschaftlich verrückt, sondern auch zutiefst inhuman.
Die Ansprüche für die Matura wurden durch die schwierigen Bedingungen in der Pandemie gesenkt. Braucht es eine Reform, damit die Matura wieder aufgewertet wird?
Mit der Einführung der Zentralmatura hat man versucht, dem Vertrauensverlust bezüglich der Matura entgegenzusteuern. Aber es hat einen zentralen Geburtsfehler gegeben, nämlich, dass immer noch der Lehrer, der die Schüler auf die Matura vorbereitet, die Matura letztlich auch bewertet. Das ist in vielen Ländern, die die Zentralmatura haben, anders. Wenn Sie die Fahrprüfung machen, prüft Sie auch nicht Ihr Fahrlehrer – was sehr gut ist. Durch die Pandemie hat es weitere Erleichterungen gegeben, die höchstwahrscheinlich bleiben werden. Etwa, dass die Jahresnote jetzt einbezogen wird und die mündliche Matura de facto abgeschafft wurde. Das hat mit einer Zentralmatura natürlich nichts mehr zu tun. Aber die öffentlichen Proteste werden sich in Grenzen halten. Ich wäre immer ein Anhänger einer echten Zentralmatura gewesen. Denn idealerweise schafft diese sehr wohl eine objektive Vergleichbarkeit – der Leistungen der Schüler und der Lehrer. Faktum ist, dass wir sehr ernsthaft über eine Maturareform nachdenken müssen. Wir dürfen uns nicht länger davor drücken, das Niveau zu definieren, das alle Maturanten erreichen müssen. Denn mittlerweile gibt es für fast alle begehrten Studien Aufnahmetests – jener für das Medizinstudium ist wesentlich selektiver als die Matura.
Hat die Pandemie eine verlorene Generation geschaffen?
Ich halte von diesen Schlagzeilen gar nichts, sie könnten zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Die heute Jungen haben eine Lebenserwartung von über 90 Jahren. In ihrem Leben werden diese eineinhalb Jahre Pandemie keine allzu große Rolle spielen. Was ich eher befürchte, ist eine gespaltene Generation. Dort, wo es Unterstützung von den Eltern gegeben hat, haben die Schüler für ihr Leben wichtige Fähigkeiten wie Eigenmotivation, Selbstverantwortung und Resilienz gelernt, die gar nicht auf dem offiziellen Stundenplan standen. Diese Möglichkeiten hatten die Kinder aus sozial schwachen Familien leider sehr selten. Sie sind sicher noch weiter zurückgefallen, und wir müssen sie jetzt mit Sommerschulen, ganztägigen Schulformen und Coachings durch Lehrer massiv unterstützen. In Zukunft wird künstliche Intelligenz eine enorme Rolle spielen. Viele niedrig qualifizierte Jobs werden wegfallen. Nur wer bereit und fähig ist, ständig weiter zu lernen, hat gute Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Wir müssen alles tun, um eine gespaltene Gesellschaft zu verhindern, dann wir es auch keine verlorene Generation geben.
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