Und zwar wie?
Sie verschickten am 13. März Unmengen von zusammenhanglosen Aufgaben per eMail und gingen dann auf unerreichbare Distanz.
20 Prozent der Schüler waren während Corona für die Lehrer nicht erreichbar. Ist das einer der Kollateralschäden, die man hinnehmen muss?
Die Kluft zwischen den Familien, wo die Eltern abwechselnd mit den Kindern gelernt haben, und jenen Eltern, die bildungsfern sind, ist noch größer geworden. Am bedrohlichsten ist aber das 20-Prozent-Problem. Alle Studien vor und während Corona verdeutlichen, dass unser derzeitiges Schulsystem für jedes fünfte Kind ungeeignet ist, um Lernfreude zu fördern und grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln. Das sind jene Schüler, die nach neun Jahren Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen können. Man muss kein Zivilisationspessimist sein, um zu ahnen, dass sich dieser Prozentsatz weiter erhöhen wird.
Hätte man nicht, um diese Kluft nicht noch zu vergrößern und die Eltern zu entlasten, das Schuljahr früher – etwa Ende April – beenden müssen?
Die Schulen zu schließen, war angesichts der Entwicklungen richtig.
Aber ursprünglich war das nur bis nach Ostern geplant ...
Ab dem Zeitpunkt, wo man wusste, wir schaffen es nicht mehr in einen regulären Modus, hätte ich es besser gefunden, zu sagen, wir beenden das Schuljahr spätestens mit Ende Mai und beginnen dafür mit dem Schuljahr wieder im August. Es können Olympische Spiele und die Fußball-Europameisterschaft verschoben werden, aber dass Sommerferien verschoben werden, ist in Österreich undenkbar. Die Sommerschule ist zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es ist den Eltern und insbesondere den allerziehenden Müttern nicht zumutbar, dass sie wochenlang mit den Kindern lernen mussten. Jetzt kommen neun Wochen Sommerferien, dann ist in Westösterreich sechs Wochen Schule und dann stehen schon die Herbstferien vor der Tür. Wir können uns 2020 die Herbstferien aus pädagogischen Gründen nicht leisten. Sie gehören um ein Jahr verschoben.
Was die Eltern an den Rand der Belastbarkeit gebracht hat, war doch, dass Lehrer, die zwar bei der kleinsten Veränderung der Unterrichtszeit aufschreien, offenbar wenig Rücksicht auf die Mehrbelastung mit Homeschooling und Homeoffice Rücksicht genommen haben. Da musste neben den Hauptfächern auch noch C-Dur geübt werden.
Wenn man ehrlich ist, hat an den meisten Schulen kein moderner digitaler Unterricht stattgefunden, sondern der Stundenplan mit oft bis zu 21 Unterrichtsfächern wurde nur 1:1 online abgebildet. Aber niemand ist auf die Idee gekommen, sich die Frage zu stellen: Sind das die Inhalte, die unsere Kinder wirklich brauchen? Mir ist nicht bekannt, dass beispielsweise die Mathematiklehrer und die Physiklehrer ein gemeinsames Unterrichtskonzept entwickelt haben. Dadurch ist es zu dieser massiven Überlastung der Eltern gekommen.
Wie schaut dann ein digitaler Unterricht aus?
Es wird überhaupt nicht darüber diskutiert, ob der sogenannte Stoff, der jetzt versäumt wurde, von irgendeiner Relevanz für junge Menschen ist. Unsere Testkultur, vor allem die Seuche der Multiple-Choice-Prüfungen, verleitet dazu, diejenigen Inhalte zu unterrichten, die am einfachsten zu prüfen sind. Es ist viel leichter, Schülern mathematische Formeln einzutrichtern, als sie dabei zu unterstützen, gefakte Statistiken zu durchschauen.
Worauf sollte man sich konzentrieren?
Der israelische Historiker Yuval Harari geht davon aus, dass Menschen sich in Zukunft aufgrund des rapiden Fortschrittes der künstlichen Intelligenz alle 15 Jahre neu erfinden müssen, um die beruflichen Herausforderungen bewältigen zu können. Somit ist es sehr wahrscheinlich, dass ein Großteil des Wissens, das die Schüler heute lernen, unwichtig sein wird, wenn sie 40 Jahre alt sind. Da braucht es emotionale Stabilität, um diesen Stress der Unsicherheit bewältigen zu können. Es gibt aber ein sehr schlüssiges Konzept, die sogenannten 21st Century Skills. Dabei lösen drei Dimensionen der Bildung das traditionelle Fächer-Curriculum ab. Wissen, Fähigkeiten und Charakter stehen hier im Fokus. 1. Was wir wissen und vor allem verstehen sollten. 2. Wie wir unser Wissen kreativ auf konkrete Probleme anwenden. 3. Wie wir uns in der Welt verhalten und engagieren sollten.
Estland gehört zu den ärmeren Ländern der EU, hat aber die besten Schulen, die Bildungskluft zwischen Arm und Reich ist kleiner. Wie geht das?
Das stimmt. Gerade einmal fünf Prozent der estnischen SchülerInnen fallen in die Kategorie der leistungsschwachen SchülerInnen. Dem stehen mehr als 20 Prozent leistungsstarke Schüler entgegen. Zum Vergleich: In Österreich erreichen nur 16 Prozent Top-Niveau, knapp 14 Prozent sind jedoch leistungsschwach. Estlands Schulsystem ist sehr effizient. Das Land gibt lediglich 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Schulen aus – und liegt damit ein Drittel unter dem OECD-Schnitt. Auch die Bildungsausgaben pro Kopf sind erstaunlich niedrig: Mit rund 7.000 Dollar betragen sie nur etwas mehr als die Hälfte der österreichischen Ausgaben. Das heißt, unser Schulsystem hat das Budget des FC Barcelonas, aber spielt nur auf dem Niveau von Austria Wien. Nur Tafel und Kreide durch Powerpoint zu ersetzen, steigert noch nicht die Neugier, die Welt besser zu verstehen. Funktioniert haben echte Innovationen in Schulsystemen meist dann, wenn sie von Regierungen initiiert und gegen alle Widerstände durchgesetzt wurden – wie bei den Charter Schools in den USA und den großen Schulreformen in Finnland, Kanada und Neuseeland.
Gibt es einen Lerneffekt auch für die Eltern? Vielleicht, dass es ein echter Knochenjob ist, Lehrer zu sein ...
Corona sorgte vor allem bei Eltern für unterschiedliche Aha-Erlebnisse. Die einen erkannten, dass der Lehrberuf durchaus fordernd ist. Den anderen offenbarte sich dank Homeschooling die unerfreuliche Tatsache, dass ihr Kind doch kein von seinen Lehrern verkanntes Genie ist. Wenn Schüler, Lehrer und Eltern ihre Erfahrungen gemeinsam reflektieren, dann könnte ein positiver Neustart im September gelingen.
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