Salcher: "Zentralmatura hat Geburtsfehler"

Andreas Salcher: „Kommt keine große Schulreform, ist das für den Wohlstand gefährlich“
Der Buchautor verhandelte das Regierungsprogramm für die Bildung mit. Die Reformen mit Deutschklassen sind ihm aber zu wenig. Er appelliert an Sebastian Kurz, die Schule zu seiner Agenda zu machen.

KURIER: Herr , Sie haben das Regierungsprogramm im Bereich Bildung mitverhandelt. Die Regierung ist sechs Monate im Amt. Wie fällt Ihr Urteil über die neuen Reformen aus?

Andreas Salcher: Im Rahmen des bestehenden Systems hat Unterrichtsminister Heinz Faßmann die richtigen Schritte mit der Einführung der Deutschklassen und einer ersten Aufwertung der Kindergartenpädagogik gesetzt. Allerdings liegt meine Betonung auf „im Rahmen des bestehenden Systems“. Offensichtlich ist nicht geplant, dieses System zu reformieren. Das ist mein größter Kritikpunkt: Mit diesem System werden wir nie an die Spitze kommen, sondern wir werden bestenfalls im Mittelfeld landen. In der Fußball-FIFA-Weltrangliste sind wir auf dem 28. Platz. Im Fußball wird wahrscheinlich niemand behaupten, dass wir weltmeisterlich sind. In der Bildung könnten wir das sehr wohl schaffen, trotzdem wir bei PISA 2015 im Lesen auf dem blamablen 33. Platz lagen.

Sie wünschen sich mehr Mut zu echten Veränderungen, wie bei den Sozialversicherungen?

Bei den Sozialversicherungen geht man eine Systemveränderung mit Hilfe politischer Unterstützung an. Das würde es auch im Schulsystem brauchen. Mir war klar, dass man vor den Landtagswahlen dieses heiße Thema nicht angreifen wollte, aber in den kommenden Monaten müsste es einen nationalen Konsens geben, um das Schulsystem zu reformieren. Die Frage, die wir uns stellen müssen: Wollen wir in der Champions-League der Bildungsnationen mitspielen oder nicht? Passiert hier nichts, ist das für das ganze Land gefährlich. Was es für den Wohlstand, das Sozial- oder das Gesundheitssystem bedeutet, wenn jeder fünfte Schüler nicht ausreichend lesen kann, brauche ich nicht zu erklären.

Salcher: "Zentralmatura hat Geburtsfehler"

Sebastian Kurz soll mehr Mut zu einer echten Bildungsreform zeigen.

 

Soll sich Sebastian Kurz weniger um die Migration, sondern besser um die Bildung kümmern?

Wenn ein Bildungsminister versucht, auch nur ein Stäbchen im komplizierten Mikadospiel zu bewegen, schreien alle auf, dass alles zusammenbricht. Wir brauchen ein neues Spiel. Das wird nur passieren, wenn sich Kanzler Sebastian Kurz an die Spitze dieser Initiative stellt. Er muss die Schulsystemreform zu seiner Agenda machen, wie er es bei der Migration macht. Das halte ich für eine Überlebensfrage für die Republik. In meinem Buch „Der talentierte Schüler und seine Feinde“ habe ich die Schule als eine Talentvernichtungsindustrie bezeichnet. Das stimmt nach wie vor, aber es ist auch eine Ressourcenvernichtungsmaschine.

Wo werden die Ressourcen vergeudet?

Nur zwei Beispiele: Es gibt 6030 Schulen in Österreich. 72 Schulen haben weniger als zehn Schüler. Nur damit verständlich ist, wie absurd und teuer die Aufrechterhaltung von Kleinstschulen ist: In Tirol gibt es Schulen mit drei, in Vorarlberg mit sieben Schülern. So schafft man das zweitteuerste Schulsystem der EU locker. 408 Schulen haben mehr als zehn, aber weniger als 25 Schüler. 834 Schulen haben weniger als 50 Schüler. Mir ist klar, dass jeder Bürgermeister um seine Schule kämpft, aber das macht das Schulsystem extrem teuer. So wurden in Vorarlberg 365.000 Lehrer-Überstunden geleistet und in Wien 375.000. Diese Mittel fehlen etwa für Lehrerarbeitsplätze und Schüler-Coachings.

Wie kommt Vorarlberg auf diese Menge an Überstunden im Vergleich zu Wien?

Der Grund ist ganz simpel. Bundesländer wie Vorarlberg bekommen nicht genügend Lehrer für ihre Kleinschulen genehmigt, also wird es über die Überstunden geregelt. Was den Steuerzahler sehr teuer kommt. Das System ist auf Ressourcenmaximierung ausgerichtet, aber nicht auf Qualitätskontrolle. Entgegen allen Behauptungen vom Kaputtsparen, hat sich das Bildungsbudget in den letzten zehn Jahren nur nach oben entwickelt. Von 6,730 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf die 8,824 Milliarden Euro für 2018. Das sind mit über drei Prozent jährlichen Steigerungen deutlich mehr als die BIP-Steigerungen. Und wir haben nach wie vor ein Halbtagesschulsystem – an diesem Zustand will man offenbar auch nichts ändern. Es steht zwar im Regierungsprogramm, dass die Ganztagsschulen ausgebaut werden sollen. Aber da tut sich viel zu wenig. Ohne Ganztagesschulsystem wird die NMS scheitern, weil die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern mit Sprachproblemen die Defizite nicht aufholen können. Die Kinder der dritten Migrantengeneration sprechen schlechter Deutsch als die der ersten. Die erschreckenden Leistungen der Bildungsfernen sind seit zehn Jahren unverändert, trotzdem wird jeder Neustart verhindert.

Dafür werden die Deutschklassen eingeführt, die allerdings stark kritisiert werden.

Es ist gut, dass Minister Faßmann bei den Deutschklassen relativ hart geblieben ist. Im Herbst 2018 wird es rund 600 Deutsch-Klassen in der ersten Schulstufe geben bei rund 18.000 Klassen in der Volksschule insgesamt. Der Einwand, dass das bisherige System, wo in manchen Wiener Bezirken bis zu 90 Prozent der Kinder einer Klasse nicht Deutsch konnten, diese das aber voneinander lernen sollten, ist faktenwidrig. Das zeigen die Ergebnisse aller Bildungstests.

Jeder fünfte Schüler hat die Mathematikmatura nicht auf Anhieb geschafft. Unterrichtsminister Heinz Faßmann ortet trotzdem keinen Wurm in der Zentralmatura. Jetzt wird eine Zuhör-Tour gestartet, um die Zentralmatura zu verbessern. Ist das der richtige Ansatz?

In der Zentralmatura steckt kein Wurm, sondern sie hat einen Geburtsfehler. Die Idee, dass der Lehrer, der dich auf die Matura vorbereitet auch prüft, ist eine Schnapsidee. Jene Länder, die das gut machen, trennen das. Diese Trennung muss man künftig schaffen, sonst macht das keinen Sinn. Ich schätze Kurt Scholz, der nun mit der Zuhör-Tour beauftragt wurde. Doch was wird das Endergebnis der Tour sein? Die Schüler werden sagen: „Ich will durchkommen.“ Das wollen auch die Eltern und die Lehrer für die Kinder. Die Frage kann nicht nur auf dieser Ebene beurteilt werden. Wir brauchen eine ideologiebefreite Debatte darüber, was heute der Zweck der Matura ist. Der war vor 30 oder 40 Jahren noch ein anderer. Mit Matura konnte man Bank-, Versicherungsmitarbeiter oder Verwaltungsbeamter werden. Diese Jobs werden immer weniger oder es gibt sie teilweise nicht mehr. So wurde die Matura primär zur Studienberechtigung. Daher werden wir das Niveau definieren müssen. Muss jeder Maturant Integralrechnung beherrschen? Wenn ja, dann müssen wir ihnen Mathematik so vermitteln, dass sie diese verstehen können. Auswendiglernen und Bravsein wie vor der Zentralmatura, funktioniert nicht mehr.

Besuchen zu viele Kinder in den Ballungszentren die AHS, die dafür gar nicht das Niveau dafür besitzen?

Es ist nicht das Problem, aber die Ursache. Mehr als jedes zweite Kind geht in Wien in die AHS-Unterstufe. Sie ist zur Gesamtschule der Bildungsschicht in den Bezirken Wien-Hietzing, Döbling oder Währing geworden. Nicht jedes Kind ist kognitiv hochbegabt. Jeder Mensch kann nicht alles erreichen, selbst wenn er sich selbst noch so anstrengt. Eltern tun ihren Kindern daher nichts Gutes, indem sie ihnen das gut gemeinte Märchen erzählen, dass es für sie keine Grenzen gebe, wenn sie sich nur besonders anstrengen.

Was müsste passieren, dass zu einer echten Reform kommt?

Jeder Politiker muss sein Kind in die nächst gelegene öffentliche Schule geben. Dann würde sich plötzlich ganz schnell an den Volksschule und Neue Mittelschule alles ändern.

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