Bei Schulstart "zuerst aufarbeiten, wie es allen ergangen ist"
Bildungspsychologin Christiane Spiel über die Notwendigkeit, Corona zum Thema zu machen, was wir vom Lockdown lernen und welche Schüler wir womöglich verlieren.
KURIER: Ab heute sehen sich 700.000 Volks- und Unterstufenschüler wieder in ihren Klassen. Ist davon auszugehen, dass die zwei Monate seelische, emotionale Spuren bei den Schülern hinterlassen haben?
Christiane Spiel: Das kann man sicher nicht pauschal sagen. In unserer Online-Studie zum Lernen unter Covid-19 wollten wir ja herausfinden, wie es den Schülern beim Home Learning geht, welche Probleme, welche Herausforderungen sie haben. Erfreulicherweise haben auch 25.000 Schüler ab der Sekundarstufe II teilgenommen. Aber jene, denen die technische Ausstattung fehlt – und die vermutlich eine Risikogruppe darstellen – konnten gar nicht mitmachen.
Das heißt im Umkehrschluss?
Wir müssen auch annehmen, dass diejenigen, die mit der Situation schwer oder gar nicht zurande gekommen sind, den Online-Fragebogen eher auch nicht ausgefüllt haben. Das heißt, dass in unserer Studie das Risiko eher unterschätzt ist. Wie hoch die Dunkelziffer ist, das kann leider keine Studie sagen. Zwei Drittel der 25.000 Schüler haben gesagt, dass sie sich trotz der aktuellen Situation wohlfühlen, 80 Prozent sehen optimistisch in die Zukunft. Diese Ergebnisse stammen aber von Anfang April. Wie sich ihre Situation verändert hat, das haben wir in einer zweiten Erhebung erfragt; die Daten dazu werten wir noch aus.
Welchen Gruppen ist es bis dato schlecht ergangen?
Sechs Prozent haben angegeben, dass sie ein niedriges Wohlbefinden haben. Diese Schüler beschreiben sich auch als wenig sozial eingebunden und als wenig erfolgreich beim Lernen. Gerade diese Schüler sollten dringend wieder zurück in ihre Klassen, damit sie den Anschluss nicht verlieren. Denn bei ihnen sind die drei zentralen psychologischen Grundbedürfnisse beeinträchtigt: Kompetenzerleben – dass man etwas kann, etwas geschafft hat, soziale Eingebundenheit und Autonomieerleben; Letzteres wurde in der Corona-Phase ja für uns alle eingeschränkt.
Nicht nur demgemäß sind die Erwartungshaltungen an den ersten Schultag nach dem Lockdown enorm.
Es ist sehr wichtig, dass man sich in der Schule zu Beginn nicht gleich auf die jeweiligen Fächer stürzt, sondern zuerst gemeinsam aufarbeitet, wie es allen ergangen ist. Auch die Lehrpersonen sollten sich hier mit ihren Erfahrungen einbringen. Wenn es dann ums Lernen geht, würde ich mir wünschen, dass nicht nur die Fächer eine Rolle spielen, sondern auch das Lernen selbst. Das selbstorganisierte Lernen zu thematisieren, aufzuzeigen, was die Schüler in der Corona-Phase alles geschafft haben, nämlich sich selbst einen Tagesplan zu machen, Stoff und Zeit einzuteilen, ist enorm wichtig.
Gibt es Unterrichtsfächer, die prädestiniert sind, um Corona zum Thema zu machen, wie Deutsch oder Bildnerische Erziehung?
Egal, welche Fächer zu Beginn unterrichtet werden, bin ich der Meinung, dass man Corona als Thema aufgreifen sollte. Neben den individuellen Erfahrungen liefert es ja auch viele inhaltliche Anknüpfungspunkte. Nehmen Sie zum Beispiel Fake News. An diesem Thema kann man exemplarisch aufarbeiten, welchen Informationen man vertrauen kann, wie man die Glaubwürdigkeit der Quellen prüfen kann und lehren und lernen, welche Fragen ich einer Quelle stellen muss.
In welchen Bereichen könnten Schüler von der Corona-Zeit profitiert haben?
Was die Schüler beziehungsweise ein Teil von ihnen gewonnen haben, das ist ein neugelernter, hoher Grad an Selbstorganisation beim Lernen und auch erweiterte EDV-Kenntnisse. Das haben auch viele Schüler und Schülerinnen in unserer Studie angegeben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Heterogenität unter den Schülern weiter zugenommen hat. In unserer Studie haben 7 % angegeben, dass sie gröbere Probleme bei der Bewältigung der schulischen Anforderungen haben. Diese Schüler haben auch ein niedriges Wohlbefinden, geringere Zuversicht, fühlen sich weniger mit ihnen wichtigen Personen verbunden und halten weniger Kontakt mit Freunden.
Wer sind konkret die "Verlierer" und wie kann man sie zurückgewinnen?
Besonders hart trifft es jene, die aus sozial benachteiligten Familien kommen, die keine technische Ausstattung zum digitalen Lernen hatten, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und deren Eltern nicht beim Lernen helfen können und die womöglich durch Corona von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Gerade für solche Schüler ist es wichtig, wieder in die Schule zu kommen. Denn es ist zu befürchten, dass viele von diesen das Selbstvertrauen, dass sie die schulischen Anforderungen schaffen, verloren haben. Die Studien zeigen jedoch klar: Wenn ich kein Selbstvertrauen habe, fange ich erst gar nicht mit dem Lernen an. Deshalb muss man im Unterricht zuerst wieder mit dem Aufbau des Selbstbewusstseins beginnen. Das kann ich allen Fächern machen, gerade in jenen, die keine Angst-Fächer sind. Gemäß dem Motto: "Wenn Du es hier schaffst, kannst Du es auch in Mathe schaffen."
Brauchen die Benachteiligten zusätzliche Unterstützung?
Für jene, die den Anschluss verloren haben – und die Lehrer wissen zumeist sehr gut, um welche Schüler es sich handelt - wäre eine zusätzliche Unterstützung jetzt und eine Lernmöglichkeit im Sommer sehr wichtig.
Laut einer Studie des Bildungsministeriums wollen 30 Prozent der Eltern ihre Kinder bis zum Sommer gar nicht mehr in die Schule gehen lassen. Ist das Ihrer Meinung nach klug?
Unter den gegebenen Umständen können Eltern frei entscheiden. Ich würde es nicht empfehlen, weil Schule mehr bietet als Lernen. Schule bietet Struktur und soziale Eingebundenheit, das heißt das Lernen mit und von Mitschülern. Auch die Lehrpersonen können sich vor Ort in der Klasse ein ganz anderes Bild machen, wie es den Schülern mit dem Lernen geht und ob der Stoff verstanden wird. In unserer Studie haben die Schüler auch angegeben, dass es beim Home Learning sehr schwierig für sie ist, keine mündlichen Instruktionen zu erhalten und keine Nachfragen stellen zu können.
Gleichzeitig ist stets von einer zweiten Welle die Rede und davon, dass möglicherweise nicht mehr die Wirtschaft, wohl aber Schulen geschlossen werden könnten. Inwiefern beeinflusst diese Perspektive das Schulgeschehen und die Schüler?
Ich denke, dass es sehr wichtig ist, die Maßnahmen, die man dann setzt, nicht nur nach ihren erwarteten Wirkungen zu bewerten, sondern auch nach möglichen nicht intendierten Wirkungen und gleichzeitig die vielen miteinander vernetzten gesellschaftlichen Bereiche im Blick zu haben. Das gilt für die Wirtschaft wie für den Bildungsbereich, denn: Wie es der Jugend jetzt in den Bildungsinstitutionen geht, das hat in wenigen Jahren ursächliche Auswirkungen auf die Arbeits- und Wirtschaftswelt. Gibt es unterschiedliche Meinungen oder Dissens, wie vorgegangen werden soll, dann ist es meiner Meinung nach essenziell, das auch öffentlich zu diskutieren und zu argumentieren, damit die Entscheidung von der Mehrheit verstanden und mitgetragen wird. Denn es gibt nicht die einzige richtige Lösung oder die einzig richtige Maßnahme. Wichtig ist ein begründetes Vorgehen.
Worüber kaum gesprochen wird ist die Erwartungshaltung der Lehrer.
Die Lehrer standen und stehen vor großen Herausforderungen; eine davon ist sicher die Digitalisierung im Unterricht. Hier gibt es große Unterschiede, was die Kenntnisse der Lehrer und die Ausstattungen der Schulen selbst betrifft. Es wird wichtig sein, Erkenntnisse aus dem Home Learning in den bereits konzipierten Masterplan Digitalisierung aufzunehmen. Eine beachtliche Zusatzherausforderung für die Lehrer wird jetzt die Aufarbeitung der persönlichen Geschichten der Kinder sein, mit denen sie konfrontiert werden. Leider ist es nicht möglich, auf Knopfdruck die Zahl der Schulpsychologen zu erhöhen, aber es wäre auf lange Sicht gesehen sinnvoll und nachhaltig, die Zahl der Psychologen und Sozialarbeiter an den Schulen aufzustocken, damit sich die Lehrer auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können.
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