Armutsfalle für pflegende Angehörige: Ängste einer unsichtbaren Gruppe
"Wieso ich? Das ist doch kein Leben." Das dachte sie im Stillen immer wieder. Freunde und Verwandte haben sich längst abgewandt. "'Ach, du bist ja arm. Aber bitte lass es', haben sie gesagt. Niemand will etwas mit Behinderten zu tun haben", erklärt Frau S. in ihrem kleinen Wohnzimmer, das auch als Büro und Kinderzimmer dient.
Diese Gedanken seien längst verflogen – sie hätte auch keine Zeit, sich einsam zu fühlen oder sich selbst zu bemitleiden.
Denn Frau S. aus Wien pflegt seit 27 Jahren ihren mehrfach schwerbehinderten Sohn. Er hat unter anderem einen schweren Fall von Autismus, Schizophrenie und eine neurogene Blasen- und Darmstörung, weshalb er Darmspülungen über ein Appendikostoma benötigt. Auch das macht die Mama. Genau wie der Sohn ist auch ihre mittlerweile erwachsene Tochter sowie ihr Enkelkind auf dem autistischen Spektrum.
Mit dem Alter kommen mehr Ängste
Frau S. ist Anfang 50. Sie wird älter, ihre Kinder auch. Und sie leben am Existenzminimum. Der Lebensmitteleinkauf löst täglich Sorgen aus. Die Teuerung hat die Situation drastisch verschärft. Der monatliche Kinobesuch mit ihrem Sohn ist für Familie S. Luxus. Am Nachmittag auf einen Kaffee gehen? Das gehe weder zeitlich noch finanziell.
"Ich sehe schwarz"
"Wenn ich an meine Zukunft und die meiner Kinder denke, sehe ich schwarz", sagt Frau S. Sie ist eine älter werdende pflegende Angehörige – genauer gesagt ein älter werdender pflegender Elternteil. Damit gehört sie zu einer scheinbar unsichtbaren Gruppe. Das zeigt sich auch daran, dass es kaum Zahlen älter werdende Eltern, die ihre eigenen Kinder über 18 Jahre pflegen, gibt.
Sie lassen sich aber schätzen. Im Dezember 2022 hatten rund 456.139 Personen über 18 Jahre Anspruch auf Pflegegeld. Insgesamt übernehmen rund 801.000 Angehörige die häusliche Pflege. Wenig überraschend ist, dass die überwiegende Mehrheit der pflegenden Angehörigen Frauen sind.
Am deutlichsten ist der Geschlechterunterschied bei den pflegenden Eltern: Ein Prozent sind Väter, elf Prozent Mütter. Die restlichen pflegenden Angehörige sind Kinder, vor allem (Stief- und Schwieger-) Töchter, Young Carers und Lebenspartner.
Der Pflegewissenschafter Martin Nagl-Cupal hat genau diese Gruppe in einer Studie im Jahr 2023 untersucht, um die Lebensrealitäten älter werdender pflegender Eltern zu erfassen und aufzuzeigen. Das Ergebnis: Viele erleben Diskriminierung, Geldsorgen, Überforderung durch Bürokratie, Zukunftsängste und Angst vor Altersarmut.
Nagl-Cupal schätzt diese Gruppe, die ihre pflegebedürftigen Kinder über 18 Jahre betreuen, auf etwa 10 Prozent der pflegenden Angehörigen. Konkrete Zahlen hat auch er nicht.
Wer sind die Betroffenen?
"Wir wissen, was Zahlen und Daten betrifft, viel über Pflegebedürftige, aber relativ wenig über die Angehörigen", sagt Nagl-Cupal dem KURIER. Vor allem die älteren Eltern sind kaum erschlossen.
Was man aber weiß: Die meisten sind Mütter, viele müssen aufhören zu arbeiten, weil sich die Pflege der Kinder kaum mit der Arbeit vereinen lässt. "Viele arbeiten dann in prekären Verhältnissen, selbstständig aufgrund der besseren Vereinbarkeit oder sind von Sozialhilfe abhängig", sagt Nagl-Cupal.
Das ziehe sich auch in den Ruhestand hinein, in der viele dann von der Mindestpension leben. Diese finanzielle Zukunft blüht auch Frau S. Als ihre Kinder klein waren, hat sie halbtags gearbeitet, sie habe ihren Job geliebt, wie sie sagt. Aber nach der Arbeit "ging die Arbeit erst richtig los", erzählt sie. "Für uns gibt es keinen Feierabend. Wir arbeiten 24/7".
Sozialhilfe (ehemals Mindestsicherung): Je nach Bundesland gelten abweichende Regelungen, weil noch nicht alle Bundesländer das Sozialhilfe-Grundgesetz umgesetzt haben. Der Bund sieht aber einen Höchstsatz von 1.054 Euro 12-mal jährlich vor.
Angehörigenbonus: Etwa 125 Euro monatlich ab der Pflegestufe 4
Erhöhte Familienbeihilfe, weil bei dem Kind eine schwere Behinderung vorliegt und es dauerhaft nicht in der Lage ist, sich selbst Unterhalt zu verschaffen: Die erhöhte Familienbeihilfe beträgt ab 1. Jänner 2024 180,90 Euro pro Monat.
Pflegegeld: wird 12 Mal im Jahr ausbezahlt. An die Pflegestufe werden auch Leistungen, wie der Angehörigenbonus oder die Gewährung der Sozialhilfe geknüpft
Stufe 1: 192,00 Euro
Stufe 2: 354,00 Euro
Stufe 3: 551,60 Euro
Stufe 4: 871, 10 Euro
Stufe 5: 1.123, 50 Euro
Stufe 6: 1.568, 90 Euro
Stufe 7: 2.061, 80 Euro
Das hat sie so lange gemacht, bis sie nicht mehr konnte. Sie war ausgebrannt, hatte ein Burn-out. Durch Zufall hat sie erfahren, dass sie als pflegende Angehörige ab der Pflegestufe 3 (ihr Sohn hat mittlerweile Pflegestufe 5) dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen muss, sondern Anspruch auf Sozialhilfe hat.
Heute lebt die Familie von der Sozialhilfe für sie und ihren Sohn, der erweiterten Familienbeihilfe, dem Pflegegeld und dem Angehörigenbonus. Im Vorjahr hat sie damit auch ihre Tochter und ihren Enkel finanziert, weil diese keinen passenden Betreuungsplatz für das autistische Kind gefunden hatte (vor der Diagnose) und daher dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stand, wurde ihr die Sozialhilfe gestrichen. Mittlerweile hat auch sie eine Diagnose für ihren Sohn. Pflegestufe 3. Sie ist nun Pflegende Angehörige, erhält Pflegegeld und Sozialhilfe, wie ihre Mutter.
"Pflegebedürftige Kinder zu pflegen, ist eine Armutsfalle"
Viele Familien haben außerdem zusätzlich Kosten für Heil- und Hilfsmittel, die von der Sozialversicherung teilweise nicht übernommen werden. "Familien entscheiden sich aber dennoch dafür, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie für ihren Kindern am besten helfen", sagt Nagl-Cupal und ergänzt: "Das gilt auch für manche Medikamente, die nicht im Katalog der Sozialversicherung stehen, aber in ihrem Fall besser wirken."
Auch Betreuungseinrichtungen und Tagesbetreuungen werden meist vom Pflegegeld bezahlt.
Aus dem Sozialministerium heißt es auf Anfrage, dass das Pflegegeld ausschließlich für den pflegebedingten Mehraufwand bestimmt ist. Und keine Einkommenserhöhung. Dem Ministerium ist offenbar bewusst, dass die Kosten für die Pflege nicht durch das Pflegegeld gedeckt ist.
Dazu heißt es auch: "Da die tatsächlichen Kosten für die Pflege das gebührende Pflegegeld in den meisten Fällen übersteigen, ist das Pflegegeld als pauschalierter Beitrag zu den Kosten der erforderlichen Pflege anzusehen. Es ermöglicht pflegebedürftigen Menschen eine gewisse Unabhängigkeit und kann einen (längeren) Verbleib zu Hause unterstützen."
Nagl-Cupals Fazit: "Pflegebedürftige Kinder zu pflegen, ist eine Armutsfalle", sagt der Pflegewissenschafter.
"Geballtes Armutsrisiko"
Das bestätigt auch Armutsexperte Martin Schenk von der Diakonie. "Die Sorge vor Altersarmut ist berechtigt", sagt Schenk im KURIER-Gespräch. Tatsächlich erfüllen älter werdende pflegenden Angehörige gleich mehrere Merkmale, die das Armutsrisiko erhöhen: "Das höchste Armutsrisiko in Österreich haben ältere, allein lebende Frauen über 65. Ein sehr hohes Armutsrisiko haben chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung. Wir wissen, dass meist alleinerziehende Mütter die Pflege ihrer Kinder übernehmen. In diesen Haushalten kommt ein geballtes Armutsrisiko zusammen", sagt Schenk.
In der Pension geht das Einkommen weiter zurück
Und selbst wenn man während der Erwerbszeit ein etwas höheres Einkommen hatte, gehe das in der Pension zurück. "Die Ausgaben aber bleiben die gleichen oder werden im höheren Alter für die eigene Gesundheit noch höher", berichtet der Armutsexperte.
Frau S. ist mit ihren Sorgen also nicht allein. Sie ist in einer Elterngruppe aktiv und viele machen die gleichen Erfahrungen, haben finanzielle Sorgen und Zukunftsängste. Dass das Armutsrisiko nicht nur auf dem Papier besteht, weiß Schenk auch aus seiner Beratungsarbeit bei der Diakonie. Er erzählt vom Besuch einer 70-jährigen Frau in der Diakonie, die auf Lebensmittelhilfe angewiesen ist. Sie pflegt ihre chronisch kranke Tochter und bezieht die Mindestpension. Vor der Teuerung sei sich ihr Auskommen knapp ausgegangen, nun kann sie Lebensmittel, Miete und Energiekosten nicht mehr stemmen.
Forderung an die Politik?
Von der Anstellung pflegender Angehöriger, wie es im Burgenland möglich ist, halten viele Betroffene wenig. Sie befürchten, finanziell noch schlechter auszusteigen und Tagesbetreuungs- oder Tagesstruktur-Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nicht mehr finanzieren zu können.
Auch Experte Nagl-Cupal sieht das kritisch: Für viele sei die Pflege ein 24-Stunden-Job und höre nach der 20- oder 40-Stunden-Anstellung nicht auf. Zudem hätten Menschen nach einer Pflegephase kaum Chancen, in ihren alten Beruf zurückzukehren, so Nagl-Cupal. Vielmehr müsse die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf verbessert werden.
Betroffene wie Frau S. wünschen sich von der Politik, dass sie aus der Sozialhilfe herausgelöst werden. "Der bürokratische Irrsinn muss aufhören, wir rennen ständig von Antrag zu Antrag. Wir pflegen unsere Kinder und tun etwas für die Gesellschaft", dafür wünsche sie sich einen existenzsichernden Betrag ohne regelmäßige Anträge auf Sozialhilfe stellen zu müssen.
Kommentare