KURIER: Sie lebten in den 1980er-Jahren in Moskau, mit Ihrem ukrainischen Mann. Warum haben Sie damals Russland verlassen?
Ljuba Arnautović: 1987 hat sich abgezeichnet, dass nicht eintreten wird, was viele sich erwünscht und erhofft hatten. Der Westen ist hereingebrochen, der Neoliberalismus, die Privatisierungen, wachsende Kriminalität. In Moskau war es schwierig, eine Wohnung zu finden, ich wollte nicht in eine Trabantenstadt und entschied, wieder nach Wien zu gehen. Mein Mann durfte erst nach drei Jahren ausreisen.
Ihr Vater war im Gulag. Darunter hat Ihre Einstellung nicht gelitten?
Mein Vater war ein Zerrissener, hat sich lange als Russe gefühlt. Stalin bezeichnete er als Verbrecher. Er verbrachte eine behütete Zeit im Moskauer Kinderheim. Der Gulag hat ihn seelisch und menschlich zerstört. Dort war er umgeben von brutalen Kriminellen, die später angesehene Geschäftsleute wurden, so wie er. Bis zum Alter von neun Jahren erlebte er das Rote Wien, die Ideen von Solidarität und Aufteilung der Güter prägten ihn, und er legte großen Wert auf Bildung.
Was hat der von Russland losgetretene Krieg in der Ukraine mit Ihrer Affinität zu diesem Land gemacht? Und wie gelingt es Ihnen, aufgrund Ihres Lebenslaufs eine Position einzunehmen?
Das Land selbst führt ja keinen Krieg, meine Freunde schon gar nicht. Abgesehen davon, was uns allen an diesem Krieg so weh tut, ist es für mich schmerzhaft, weil ich Russland ja liebe. Seine Kultur, Literatur, manche Menschen. Es gibt gerade keinen Austausch mit Literatinnen und Literaten. Das ist jetzt alles abgeschnitten. Ich kann meine Affinität für das Russische nicht verleugnen. Und will es auch nicht. Als wir in Wien im Karl-Marx-Hof wohnten, hat man uns „Russenkinder“ nachgerufen. Meine Schwester empfand es als Beleidigung, ich war fast stolz darauf. Wenn Sie mich konkret fragen: Meine Seele ist russisch, aber mein Herz ist ukrainisch, oder umgekehrt. Und mein Kopf weigert sich, eine Entscheidung zu treffen, also österreichisch?
Wie gestalten sich derzeit Ihre russischen Kontakte?
Ich habe ziemlich lange gezögert, Kontakt nach Russland, aber auch in die Ukraine aufzunehmen. Letzteres ist mir etwas leichter gefallen, meine 96-jährige Schwiegermutter lebt dort. Mein jüngerer Halbbruder hat Kiew verlassen, seine Firma, seine Existenz zurückgelassen. Ich wiederum hatte eine totale Blockade, russische Freunde und Verwandte anzuschreiben, bis ich mich überwunden habe. Ich glaube, ich wollte mir einen Schmerz, eine Enttäuschung ersparen, etwa hören zu müssen, dass jemand von ihnen der Putin-Propaganda erlegen ist.
Haben Sie solche Aussagen schon gehört?
Nein. Ich habe aber noch nicht mit allen offen gesprochen. Wir schreiben uns nur und verwenden dabei Codes. Das ist nicht ausgemacht, aber man lernt das ganz schnell. Man schreibt: Eigentlich wollte ich dich im Sommer besuchen, aber die Wetterlage ist grad’ so schlecht. Man findet lauter solche Umschreibungen, man spricht nicht richtig darüber. Man sagt, wir sind mit dir, oder, wir halten zusammen, solche Sätze. Es ist völlig verrückt im Moment. Und eigentlich ähnlich, wie es in der Sowjetunion einmal war. Wo man genau aufpassen muss, was man sagt, wo man lernen musste, zwischen den Zeilen zu lesen.
Wie sehen Sie die Rolle der Medien?
Es hat mich erschüttert, welche Macht die Medien haben. Überall. Ich schaue auch die Putin-Kanäle, weil mich interessiert, was die Russen so alles gefüttert bekommen. Menschen werden abgeschlachtet und man behauptet steif und fest, das sei alles gefaked. Das wird so seriös aufbereitet, wie bei uns Beiträge in der „Zeit im Bild“. Ich gebe zu, ich habe oft Aggressionen gegen dieses „gehirngewaschene Volk“. Weiß aber zugleich, dass ihnen das angetan wird.
Putin spricht immer von Entnazifizierung. Warum wirkt das?
Es existiert noch immer dieses Narrativ von der Verteidigung des Vaterlandes. Millionen haben im Zweiten Weltkrieg gegen die Faschisten gekämpft und sind gestorben. Es gibt keine Skrupel, auch heute, russische Männer ins Feuer zu schicken, es gibt ja genug von ihnen. Das Volk ist so riesig, dass selbst ein paar tausend Mütter, deren Söhne im Leichensack zurückkommen, unter der Wahrnehmungsgrenze bleiben.
Ist in Österreich das Bild von Russland jetzt von Vorurteilen geprägt ?
Es gibt natürlich die allgemeine Sehnsucht, alles möge einfach und eindeutig sein. Gerne bildet man sich ein Urteil und folgt denen, die dieses Urteil bestätigen. Wir haben ja fast ein Glück, dass heutzutage die Rechten die Russen-Freunde sind. (lacht) Wenn’s umgekehrt wäre, wäre die Stimmung vielleicht eine andere.
Was hat sich in den letzten Jahren verändert in Russland und der Ukraine?
Ich war in beiden Ländern. Zuletzt 2021. Da habe ich auch einen Wahnsinnsunterschied bemerkt. Wolkenkratzer wachsen da wie dort, und es regieren westliche Firmen und Konsum, jeder muss ein Auto haben. Aber die Unterschiede in der Lebenskultur sind beachtlich. In Moskau tragen Frauen meist hohe Stöckelschuhe, in Kiew, vor allem die jungen Frauen flache Schuhe und Sneakers. Hier gibt es vegetarische und vegane Lokale, ein riesiges Kulturangebot. Junge Leute treffen sich in Gruppen auf der Straße. Wenn man sich in Kiew als Fußgänger dem Randstein nähert, bleiben schon die Autos stehen. Früher, in der ganzen Sowjetunion, hat man geschaut, dass man irgendwie überlebt als Fußgänger. Ein Taxifahrer hat mir das so erklärt: In der Ukraine orientiert man sich westlich und benimmt sich so, wie man glaubt, dass man sich im Westen benimmt.
Was können Sie als Schriftstellerin bewirken? Künstler können nichts bewirken, in dem Sinne, dass man sich jetzt an die Spitze einer Widerstandsbewegung stellt. Ich darf mit meinen Texten keine Hintergedanken verfolgen, nicht missionieren, niemanden in eine gewissen Richtung manipulieren. Die Leserinnen und Leser sind selbstdenkende Individuen.
Werden Sie einen Text zu diesem Krieg verfassen?
Ich könnte schreiben, was ich dazu empfinde. Das ist aber uninteressant, überhaupt als Mensch, der sich hier in Sicherheit fühlt. Dramatische Ereignisse auszuschlachten, durch die Sprache noch mehr zu dramatisieren, ist nicht mein Stil. Das wäre unlauter.
Studentin: Wie sich Beziehungen veränderten
Die Entscheidung, mit 18 Jahren Österreicherin zu werden, ist ihr nicht schwergefallen. Mit 14 war Daria Shulgina mit ihren Eltern aus Moskau ins Weinviertel gekommen. Die Eltern kehrten bald zurück, die Tochter blieb. Dass sie zur Angelobung ein Dirndlkleid trug, erzählt die 25-Jährige gern. Wie zur Bekräftigung der Einstellung, ihrem Geburtsland den Rücken zu kehren. Nie werde es so sein, wie sie sich die Entwicklung dort vorstelle.
Drastisch führt dieser Krieg das vor Augen. „Keiner hat damit gerechnet.“ Russen, Ukrainern, Kasachen – „das war nie ein Problem, es war eine große russischsprachige Gemeinschaft“. Dann begannen in den sozialen Medien die Diskussionen. Steigerten sich zu Unverständnis für die jeweils andere Seite, zu Anfeindungen. Die traurige Entwicklung: „Das führt dazu, dass sich Leute voneinander entfernen, statt miteinander zu reden.“ Was nicht immer einfach sei. „In den sozialen Medien kursieren viele Fake-News, von allen Seiten. Es ist ein Informationskrieg.“
Das merkt sie im Kontakt mit ihrer Familie in Russland. Das Thema Krieg vermeidet Daria Shulgina jetzt. In vielen Familien, die sie kennt, herrsche noch eine seit vielen Jahren millionenfach gelebte Alltagsstrategie: Nur das eigene Ding machen, das andere ausblenden.
Sie selbst verleugnet ihre Wurzeln nicht. Betont jedoch, als österreichische Staatsbürgerin in einer anderen Lage zu sein. Die Hoffnung auf Veränderung aufgegeben hat die junge Frau nicht völlig, fragt sich aber: „Wie wird man in den nächsten Jahren über Russland reden? Über das Brauchtum oder über ein zweites Nordkorea?“iteu
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