Zurück aus der Vergangenheit: Diese viktorianischen Krankheiten breiten sich in England aus
Er gilt als Pest des Meeres, als Plage der Seefahrer. „Die Betroffenen“, schrieb Seelsorger Richard Walter 1740 in seinem Bericht an Bord der „Voyage Round the World“, „haben eine Haut so schwarz wie Tinte. Geschwüre, Atembeschwerden, eine Verkrümmung der Gliedmaßen, ausfallende Zähne und, was vielleicht am abscheulichsten ist, eine seltsame Fülle von Zahnfleischgewebe, das aus dem Mund sprießt, sofort verfault und dem Atem des Opfers einen abscheulichen Geruch verleiht.“
1.300 der 2.000 Mann an Bord der „Voyage Round the World“ fielen auf dieser Reise Skorbut zum Opfer. Im ganzen 18. Jahrhundert fanden mehr britische Matrosen durch diese Krankheit als durch die Hand des Feindes ihr Ende.
Ausgelöst durch schweren Vitamin-C-Mangel - und dadurch mit Zitrusfrüchten und Sauerkraut leicht vermeidbar - verbindet man Skorbut heute gemeinhin mit hoher See, mit Piraten und Matrosen, und eigentlich mit der Vergangenheit.
Doch derzeit schlagen britische Ärzte Alarm: Vergangenes Jahr wurden fast 11.000 Menschen in England wegen Unterernährung ins Krankenhaus eingeliefert; diese Zahl hat sich in den vergangenen 15 Jahren vervierfacht. Und auch Krankheitsfälle und Hautinfektionen durch Mangelerscheinungen häufen sich.
Krätze, Rachitis, Skorbut
Seit der Pandemie, meinte etwa Allgemeinärztin Farzana Hussain zum Guardian, würden immer mehr Menschen mit unerträglichem Juckreiz zu ihr kommen. Meist habe zu dem Zeitpunkt bereits jeder in der Familie die Krankheit, auch die Kinder, sagt sie: „Der Juckreiz ist unerträglich. Die Leute verlangen eine sofortige Behandlung“. Die Diagnose, die sie dann stellt: Krätze.
Die winzigen Milben übertragen sich durch engen Hautkontakt, beim Spielen, beim Kuscheln, wenn man mit jemandem ein Bett teilt. Sie nisten sich unter der Haut ein und legen dort ihre Eier. In England verbindet man sie eigentlich mit den harten Bedingungen der viktorianischen Arbeitshäuser, mit schweren Lebenssituationen und Überbevölkerung.
Drei in 100.000 Briten sind mittlerweile von dieser Krankheit befallen; das sind rund 2.000 Briten pro Jahr, doppelt so viel wie im Fünfjahresdurchschnitt.
Es wurden laut Times auch 482 Patienten, davon 405 Kinder, mit Rachitis eingeliefert, eine Krankheit, die durch einen Mangel an Sonnenlicht sowie unzureichendem Vitamin-D-Spiegel verursacht wird.
Und dann gab es die 188 Fälle von Skorbut.
„Die Vorstellung, dass wir anfangen, an denselben Krankheiten zu leiden, an denen zu viktorianischen Zeiten die Menschen auf langen Seereisen wegen des Mangels an Zitrusfrüchten litten, ist einfach entsetzlich“, sagte Sir Michael Marmot zum Guardian. Der Direktor des Institute of Health Equity am University College London sieht die Lebenskostenkrise und jahrzehntelange Kürzungen im Sozialsystem als Grund für den Krankheitsanstieg.
In England leben mittlerweile 14,4 Millionen Menschen in Armut. Im vergangenen Jahr haben 655.000 Briten zum ersten Mal eine Essensausgabe aufgesucht. Vergangenen Winter hatten 15 Prozent der Briten nicht genug Geld, um satt zu werden.
Skeptisch oder zögerlich
Manche Briten sind seit der Pandemie wohl arzt- und impfmüde, andere halten sich immer noch an die Order, nur im Notfall in die Praxis zu kommen und dann stoßen einige Familien stoßen auf Schwierigkeiten, überhaupt einen Arzttermin zu bekommen. In den OECD-Ländern kommen im Durchschnitt 3,7 Ärzte auf 1.000 Einwohner, in England sind es nur 2,9.
Dennoch urgieren britische Ärzte, auch Anzeichen wie Juckreiz ernst zu nehmen, Apotheke oder Arztpraxis aufzusuchen.
Krätze etwa, meint Professorin Kamila Hawthorne vom Royal College of General Practitioners, sei keine scherwiegende Krankheit. Aber: „Wird sie nicht richtig behandelt, kann sie sich ausbreiten und das Risiko von Komplikationen erhöhen.“
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