"Wir brauchen bei der EU-Wahl Vollzeit-Europäer"
Er ist Präsident Jean-Claude Junckers rechte Hand in der EU-Kommission und damit der mächtigste - und auch umstrittenste - Beamte Europas: Martin Selmayr, Generalsekretär in der EU-Kommission. Was kaum jemand weiß: Der energiegeladene Jurist hat eine Nahbeziehung zum niederösterreichischen Krems. Seit zehn Jahren unterrichtet Selmayr (48) dort immer wieder an der Donau-Universität.
Und dort, mitten ins Gespräch über die beginnenden EU-Wahlen, platzte die Nachricht vom Rücktritt des FPÖ-Chefs und Vizekanzlers Strache. Zu Kommentaren über die österreichische Innenpolitik lässt sich der Spitzenbeamte aus Deutschland nicht hinreißen. Doch über die möglichen Folgen von Straches Sturz für die europäischen Rechtspopulisten, die bei den EU-Wahlen starke Zugewinne erwarten, sagt er trocken:
"Wer sich mit Hunden schlafen legt, muss sich nicht wundern, wenn er mit Flöhen aufwacht." Aber auch: "Ich befürchte nicht, dass diese Wahl zu einem Fest für Populisten wird."
Martin Selmayr im KURIER-Gespräch über einen existenzgefährdenden Moment für die EU; die kommenden Herausforderungen, mutige Spitzenkandidaten und einen "armen Tropf".
KURIER: Sie erachten diese Wahlen als die wichtigsten Wahlen in der Geschichte der Union. Warum?
Martin Selmayr: Das Umfeld, in dem die Wahlen stattfinden, hat sich verändert. Dieses Mal geht es um den Platz Europas in der Welt. Wenn wir Europäer jetzt nicht fest zusammenhalten, werden wir die Welt nicht ausreichend mitgestalten können, um unsere europäische Wirtschafts-, Sozial-und Wertegemeinschaft aufrecht zu erhalten. Bei dieser Wahl geht es darum: Wer wird in Zukunft Donald Trump im Weißen Haus in Handelsfragen gegenübersitzen, wer mit Wladimir Putin über die Sicherheit unserer östlichen Außengrenze streiten? Wer verhandelt hart mit einem schwierigen Partner wie Herrn Erdogan? Und wer zeigt China, dass wir nicht nur Wettbewerber und Partner, sondern manchmal auch Rivalen sind? Die künftige Führungsspitze der Kommission, und sie ist das Ergebnis der Wahlen, muss diese Aufgaben bewältigen und die EU noch mehr als bisher zusammenhalten und stärken.
Kann das EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber sein? Hat er das Zeug, als Kommissionschef Donald Trump gegenüber zu sitzen?
Jeder, der im Europawahlkampf als Spitzenkandidat auftritt, zeigt, dass er den Mut hat, sich zu bewähren und am Ende Führungsverantwortung zu übernehmen. Denjenigen, die Spitzenkandidaten sind, kann man das jedenfalls als Bürger mehr zutrauen als jenen, die nicht Spitzenkandidaten sind. Das Führen von Fraktionen, das Leiten eines Wahlkampfes ist eine Management-Erfahrung. Wir brauchen heute nicht den einfach strukturierten Lebenslauf, den ein bestimmtes Amt vorsieht, sondern wir brauchen Persönlichkeiten.
Als ich vor fünf Jahren den Wahlkampf für Jean-Claude Juncker übernommen habe, sagten alle mitleidig zu mir: Du armer Tropf, das wird nix werden. Das Spitzenkandidatensystem wird keinen Erfolg habe. Das mag so mach einer jetzt auch sagen….Aber schauen wir mal nach der Wahl.
Frankreichs Präsident Macron und andere EU-Staats-und Regierungschefs halten vom Spitzenkandidaten-System aber wenig.
Warum wurde das Spitzenkandidatensystem erfunden? Die Europawahl hatte 30 Jahre lang keine Gesichter. Das Stimmverhalten an der Wahlurne hatte keine Auswirkung auf die personale Zusammensetzung der europäischen Exekutive. Vor fünf Jahren hat sich das zum ersten Mal geändert, es gab einen Wettbewerb von Kandidaten und Ideen. Heute zeigt sich, dass das System schon insofern erfolgreich ist, weil eine besonders große Anzahl von beeindruckenden Persönlichkeiten um das Amt des Kommissionspräsidenten kämpft.
Wenn Weber zum Zug kommt und Sie Generalsekretär bleiben – ist eine deutsch-deutsche Spitze nicht zu viel Deutschland in der Kommission?
In der Europäischen Kommission sind wir alle Europäer – den nationalen Hut legen wir am Eingang ab. Darüber hinaus muss jeder Kommissionspräsident sein Team so aufstellen, wie es ihm passt.
Kann eine einzelne Person die Kommission tatsächlich persönlich gestalten?
Ein langjähriger, erfahrener Kommissionspräsident hat mal gesagt: Der Kommissionpräsident ist ein unmöglicher Job, weil man nur Zwänge und kaum Gestaltungsspielraum hat. Ein Kommissionspräsident ist nur dann einflussreich, wenn er ein Teamplayer ist, der mit seinen 27 Kommissaren, mit Parlament und Rat eng zusammenarbeitet. Nur so kann er ein einflussreicher Akteur im Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs sein. Er muss Führungspersönlichkeit haben und Brückenbauer sein. Und er muss zuhören können und Europa verstehen. In Brüssel muss man jeden Tag neu Allianzen schmieden und kann nicht einfach durchregieren.
Abgesehen davon, dass die Kommission keine Regierung ist.
Sie ist eine Exekutive mit teilweise regierungsähnlichen Funktionen in vielen Punkten, aber sicher noch keine Regierung.
Viele Leute wählen nicht, weil sie nicht das Gefühl haben, mitentscheiden zu können. Was können Sie ihnen entgegen?
Man kann nur entscheiden, wenn man zur Wahl geht. Nach dem Brexit-Referendum hat die Kommission Tausende Briefe junger Leute aus Großbritannien erhalten, die klagten: Sie hätten leider nicht gewählt, aber nun ginge alles in die falsche Richtung und sie fragten, ob man das Referendum nicht rückgängig machen könne.
Wenn man verhindern will, dass Dinge in die falsche Richtung gehen, muss man an der Wahl teilnehmen und sich für die Demokratie engagieren. Wer unseren europäischen Lebensstil, unser europäisches Sozial- und Wirtschaftsmodell, unsere bürgerlichen Freiheiten und unseren Wohlstand bewahren will, der muss sich einbringen in die demokratische Debatte. Demokratie ist eine zarte Pflanze, die man stetig pflegen muss. Wir brauchen bei der Europawahl Vollzeit-Europäer und Vollzeit-Demokraten.
Als jemand, der oft im Zentrum der Entscheidungen stand: Gab es aus Ihrer Sicht in den vergangenen fünf Jahren Momente, in denen der Fortbestand der EU gefährdet war?
Es gab einen Punkt, im Juli 2015, an dem langen Wochenende, als es darum ging, ob Griechenland weiter im Euro bleibt oder nicht. Wir in der Kommission haben alles daran gesetzt, damit Griechenland im Euro bleibt.
Eine Währungsunion, das ist kein Golfklub, wo man einfach jemanden rausschmeißen kann oder seine Mitgliedschaft von einem Tag auf den anderen zurückgibt. Hätten wir es nicht geschafft, Griechenland im Euro zu halten, würden wir heute hier in Krems nicht mehr mit dem Euro bezahlen. Das hätte gravierende Konsequenzen für den Zusammenhalt und die Solidarität in der EU gehabt. Am Ende hat sich das Rezept, das wir angewandt haben, als erfolgreich erwiesen. Europas Wirtschaft wächst im siebenten Jahr in Folge, die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit Jahren, die Talsohle ist durchschritten und die Existenzkrise abgewendet.
War die Migrationskrise nicht bedrohlicher?
Die Migrationskrise war keine Existenzkrise, sie war eine Herausforderung. Es gab nur für einige Monate ungeordnete Zustände. In der Folge sind schnell kluge Entscheidungen getroffen worden, etwa die Verstärkung des europäischen Außengrenzschutzes. Oder das Abkommen mit der Türkei. Dieses hätte man schon viel früher treffen sollen, weil es aber viele Türkei-Kritiker vorher ablehnten, wurde dieses Abkommen erst durch die Krise möglich.
Aber führte die Migrationskrise nicht zu einer tiefen Spaltung zwischen Ost und West in der EU?
Die Debatte zwischen Solidarität und Eigenverantwortung ist eine in der EU angelegte Grundspannung. Wer glaubt, die Europäische Union sei ein Selbstbedienungsladen, wo man sich die Vorteile herausnimmt, ohne etwas einzubringen, der hat die EU nicht verstanden. Von Tag eins an basiert sie auf Solidarität UND Eigenverantwortung. Das hat man in der Finanzkrise gesehen, auch bei der Migration.
Was sagt Ungarns Premier Viktor Orban dazu, der bei der Flüchtlingsverteilung nichts von Solidarität hören will?
Orban braucht auch in vielen Punkten Solidarität und fordert sie auch ein. Wenn es in Ungarn Überschwemmungen gibt, leisten die anderen Mitgliedsstaaten Hilfe aus dem EU-Haushalt. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Dieser Haushalt, die Strukturmittel sind ein Instrument der Solidarität. Sie helfen unseren neueren EU-Staaten, mit dem Rest Europas aufzuschließen, weil dies im Interesse ganz Europas ist. Deshalb bekommt Ungarn mehr Mittel aus den EU-Strukturfonds als beispielsweise Österreich.
Sollen also Staaten sanktioniert werden, die sich gegen die europäische Solidarität stellen?
Das ist ein konkreter Vorschlag der Kommission für den zukünftigen mehrjährigen Finanzrahmen. Es geht nicht um Strafe, sondern darum, die Verbindung herzustellen: Wer an unserer Gemeinschaft mitwirkt, wer von ihr profitiert, der muss sich auch an die Grundwerte der Europäischen Union halten und rechtsstaatliche Prinzipien respektieren. Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sie ist auch eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Deshalb ist es völlig selbstverständlich, dass niemand Mittel aus den europäischen Fonds erhalten kann, der die Grundwerte der EU verletzt. Darüber müssen der Rat und das Europaparlament vor Ende 2020 abstimmen.
Hat Bundeskanzler Sebastian Kurz recht, wenn er der EU „Regulierungswut“ vorwirft?
Darauf hat Präsident Juncker schon geantwortet. Ich bin sicher, dass die beiden sich nach dem Wahlkampf wieder so vertragen werden wie bisher. Manchmal sagt man im Wahlkampf etwas Zugespitztes. Aber ich hoffe, dass man nach den Wahlen wieder zeigen kann, dass die Kommission und die österreichische Regierung starke Verbündete dabei sind, die EU effizient zu machen und Bürokratie abzubauen. Das ist uns auch während der österreichischen Ratspräsidentschaft gelungen. Man sollte jetzt nicht im Wahlkampf andere Sachen behaupten als woran wir gemeinsam intensiv zusammengearbeitet haben.
Was wird die größte Herausforderung an die EU werden?
Bei den großen Zukunftsfragen, von der Digitalisierung bis zur Aufrechterhaltung einer fairen und freien Handelsordnung bis hin zum Klimawandel, muss eine geeinte europäische Position erzielt werden. Dabei müssen wir schneller werden. Ich würde mir wünschen, dass sich Kommission, Rat und Parlament zu Beginn der neuen Legislaturperiode auf ein gemeinsames Programm verständigen und sagen: Diese zehn Sachen wollen wir schaffen und darauf konzentrieren wir unsere Energie. Wenn wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen und binnen zwölf Monaten zehn europäische Gesetze gemeinsam beschließen und durchführen, dann kann die EU zeigen, dass sie sehr viel effizienter werden kann - nicht nur im Inneren, sondern sie würde auch nach außen weltpolitikfähig werden, wie Präsident Juncker das seit langem fordert.
Das klingt nicht, als würde sich die EU in Richtung der "Vereinigten Staaten von Europa" entwickeln.
Von diesen einfachen Begrifflichkeiten halte ich nichts. Die EU ist in einigen Bereichen sehr viel föderalistischer strukturiert als die USA. In anderen Bereichen sind wir dezentraler organisiert. Jeder Kontinent muss zu seinem eigenen Regierungsmodell finden. Einfache Formeln helfen dabei nicht. Wir sind eine demokratische lebendige, aber noch nicht perfekte Union, die jeden Tag daran arbeitet, sich weiter zu verbessern.
Zur Person: Martin Selmayr (48)
In Brüssel kennt jeder den Namen des EU-Spitzenbeamten, der von seinem Chef, Präsident Jean-Claude Juncker, in einer umstrittenen Hauruckaktion zum Generalsekretär der EU-Kommission befördert wurde. Als oberster Beamter der EU übt Selmayr erhebliche Macht aus – und zieht entsprechend viel Kritik auf sich. Von "Junckers Biest" bis zu "Bonaparte von Brüssel" lauten die wenig schmeichelhaften Bezeichnungen, die der blitzgescheite, aber auch humorvolle Experte zu Fragen der Währungsunion einfach wegwischt. Seine Kritiker werfen ihm vor, er wolle zwanghaft alles kontrollieren - vor allem den Zugang zu Juncker. Darauf kontert Selmayr gut gelaunt: "Sie kennen doch Jean-Claude Juncker. Glauben Sie, er würde sich von mir vorschreiben lassen, wen er treffen soll?"
Der gebürtige Bonner und glühende Europäer Selmayr gilt als unermüdlicher Vielarbeiter und Strippenzieher. Ob er oberster Beamter der EU bleibt, wird letztlich vom neuen Chef der Kommission abhängen.
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