Warum einem CHP-Wähler Erdoğan lieber wäre als Herausforderer Kılıçdaroğlu
Mesut lebt in Österreich und der Türkei, ist Teil der türkischen Opposition. Doch bei der Wahl wäre ihm der Amtsinhaber lieber als das Oppositionsbündnis. Und Sympathien hegt er für einen ehemaligen CHP-Politstar.
Der schwarze Mercedes allein ist schon auffällig im Straßenbild von Istanbul. Doch es ist das Kennzeichen, das die Blicke auf sich zieht: W für Wien. Am Schlüsselbund hängt ein ausgeblichener Anhänger der Wiener Polizei.
Hinter dem Steuer: ein Mann, Mitte 60, "in der Blüte" seines Lebens, sagt er. Weißes Hemd, Lederschuhe. Während des Ramadans habe er drei Kilo verloren, betont er. Doch man sieht, das Leben schmeckt ihm. Wegen des Glaubens habe er nicht gefastet: "Meine Tochter ist Ärztin und sagt, das sei gesund."
Ein bisschen typisch türkisch
Namen und Gesicht möchte er nicht veröffentlicht sehen. Wir nennen ihn Mesut, den "Glücklichen". Das passt trotz der Niederlagen, die er im Leben einstecken musste. Mesut kommt aus Yalova, einer Stadt so groß wie Innsbruck, 100 Kilometer von Istanbul entfernt.
Er ist Türke und Österreicher, erfolgreicher Stoff-Händler und, seit er in den 80ern als Doktoratsstudent nach Wien kam, auch Taxi-Fahrer – heute nur mehr hobbymäßig.
Er ist Erdbebenüberlebender, ehemaliger CHP-Bürgermeisterkandidat und Atatürk-Fan. Fast ein bisschen typisch türkisch, könnte man sagen.
Einen Çay, das türkische Nationalgetränk, und ein paar Zigaretten später – Pausen wie diese wird es noch öfter geben – geht es los. Geschickt kurvt Mesut durch das Verkehrschaos Istanbuls Richtung Yalova. Während der Fahrt redet er selbstbewusst und schnell, lacht viel, hat eine gewinnende Art. Kurzum, das Zeug zum Politiker.
"Das hat Muharrem İnce auch einmal gesagt", sagt er. İnce, eine Politgröße in der Türkei, bekannt für seine temperamentvollen Reden. Der Politiker kommt ebenfalls aus Yalova und ist einer der Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 14. Mai. Jedoch tritt er mit seiner eigenen Partei an, nicht mit dem Oppositionsbündnis des CHP-Politikers Kemal Kılıçdaroğlu.
Schon 2018 war İnce gegen Erdoğan ins Rennen gegangen, für die CHP, verlor mit 30,64 Prozent. Danach büßte er an Beliebtheit ein, stellte sich gegen Kılıçdaroğlu als Parteivorsitzenden. 2021 trat er aus der CHP aus, gründete eine eigene Partei.
Nicht wenigen "alten" Kemalisten wie Mesut, die die republikanische, nationalistische, säkulare Ideologie des Republikgründers Atatürks vertreten, aber auch Jungen wäre der 59-jährige, laute İnce lieber als Präsidentschaftskandidat als der 74-jährige, sehr gemäßigte Kılıçdaroğlu. Der will mit Rechtsextremen und den unbeliebten Kurden koalieren, das irritiert manche.
"Ich erinnere mich an einen Abend mit der Partei, İnce und Kılıçdaroğlu. Wenn Kılıçdaroğlu geredet hat, hörte keiner zu. Bei Ince waren alle still. Er hat Charisma, kann führen", erzählt Mesut.
Beinahe Bürgermeister
Reale Chancen auf das Präsidentenamt hat İnce keine, ihm werden maximal sieben Prozent vorausgesagt. Doch er könnte Kılıçdaroğlu wertvolle Stimmen kosten und ihn in eine Stichwahl gegen Erdoğan zwingen. Experten zufolge käme die dem Amtsinhaber gelegener als dem Herausforderer.
Bei Mesut ist es wohl auch das Ego, das ihn für İnce sympathisieren lässt: 2009 bat İnce den damals schon in Wien lebenden Mesut zurück nach Yalova, um als Bürgermeisterkandidat der CHP zu kandidieren. Mesut zeigt Fotos des Wahlkampfes, er mit seinen Kindern an der Hand neben İnce, der eine CHP-Fahne schwenkt.
Mesut blieb vier Monate, "doch die Zeit war zu kurz, um die Menschen zu überzeugen." Nach der Niederlage ließ er Politik zumindest beruflich sein.
"Erdoğan hat auch Gutes gemacht"
Die Fahrt nach Yalova geht durch den Avrasya-Tunnel unter dem Bosporus durch das aus dem Boden gestampfte, wohlhabende Viertel Ataşehir über die Osman-Gazi-Brücke über den Golf von İzmit – Vorzeigeprojekte von Erdoğan. "Erdoğan hat auch Gutes gemacht, das darf man nicht leugnen."
Mesut hat mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft. Wenn er könnte, gäbe er, natürlich, seine Stimme İnce. Und bei einer Wahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu? Mesut seufzt: "Dann wäre mir Erdoğan lieber. Das Bündnis ist instabil, und gefährlich für die Zukunft des Landes."
Am 14. Mai finden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Gefährlichster Herausforderer von Amtsinhaber Erdoğan ist Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialemokatischen CHP mit seinem Sechs-Parteien-Bündnis. Auch der republikanisch-demokratische, ehemalige CHP-Politiker Muharrem İnce und der nationalkonservative Sinan Oğan kandidieren.
Wirkliche Chancen auf das Amt haben nur Erdoğan und Kılıçdaroğlu. Letzterer liegt in den meisten Umfragen vor dem Amtsinhaber, bei knapp 50 Prozent (Erdoğan: 45-47 %; İnce: 6-7 %, Oğan: 2-3 %). Bei keiner absoluten Mehrheit folgt am 28. Mai die Stichwahl, in der Erdoğan bessere Chancen vorausgesagt werden. İnce, so meinen Beobachter, würde nicht Erdoğan, sondern Kilıçdaroğlu Stimmen abgreifen. Manche munkeln sogar, er würde von der AKP finanziert.
Wo Atatürk badete
Angekommen in Yalova, einem beliebten Ferienort bei Einheimischen, bekannt für seinen Blumenexport und die Thermalquellen Atatürks. Dort hat sich der Republikgründer erholt. Die Quellen gibt es nach wie vor, sind geöffnet für Besucher. Atatürks Badehaus steht heute direkt am Meer, am Horizont ist unter einer Smog-Wolke die Skyline von Istanbul zu erkennen.
Wenn Mesut durch die Stadt führt, erzählt er, was er alles anders gemacht hätte als Bürgermeister: einen Hafen und eine zweite Fähre nach Istanbul gebaut, mehr für den Tourismus.
1999 hat, ähnlich wie die Osttürkei im Februar, ein Erdbeben Yalova erschüttert, 20.000 Menschen starben. Mesuts Wohnhaus hielt dem Beben stand. "Das Schlimmste waren die Schreie der Menschen. Ich konnte danach ein ganzes Jahr nicht schlafen", erzählt er bei einem weiteren Glas Çay und einer von den unzähligen Zigaretten. Seine Firma in Yalova wurde damals komplett zerstört. "Ich war gegen alles versichert, nur gegen Erdbeben nicht." Er habe "wirklich viel" Geld verloren, sagt Mesut. Seinen Wohlstand heute musste er sich erst wieder erarbeiten.
Genug mit Politik und Erinnerungen: Der Tag endet mit einem Abendessen mit Freunden, türkischer Livemusik, Meze und ein paar Flaschen Raki. Die türkische Gastfreundschaft auszuschlagen, gilt als unverzeihlich.
"Das Leben ist heute, man muss es genießen. Wer weiß, was morgen kommt", sagt Mesut. Fast klingt es, als spreche er mehr zu seinem Heimatland als zu sich selbst.
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