Wieder nichts: Brexit-Ringen geht in nächste Runde
Die Medien sprachen vom „Super-Saturday“ – nicht nur deswegen, weil das britische Parlament in London erstmals nach 37 Jahren, seit dem Falklandkrieg, an einem Samstag zusammentraf. Viel wichtiger: Bei der als historisch eingestuften Sitzung sollte es um die Zukunft des Landes gehen. „Deal“, nämlich den, den Premierminister Boris Johnson diese Woche mit den EU-Granden ausgehandelt hatte, oder ein „No“ zu diesem Pakt, der den geordneten Austritt des Königreiches aus der Europäischen Union ermöglichen soll.
Doch wieder einmal kam es in dieser unendlichen Geschichte anders als erwartet. Der Grund heißt Oliver Letwin. Der konservative Abgeordnete hatte einen Änderungsantrag eingebracht, wonach die Entscheidung über Boris Johnsons Abkommen solange verschoben wird, bis das entsprechende Ratifizierungsgesetz unter Dach und Fach ist. Und – der Vorstoß erhielt eine Mehrheit.
Johnson bleibt stur
Hintergrund der Initiative war die Befürchtung, dass bei einem Ja zu dem Deal das Ratifizierungsgesetz entweder nicht mehr rechtzeitig bis zum geplanten Austrittsdatum 31. Oktober durchzubringen sein könnte und damit ein harter Brexit drohe. Oder dass die Regierung die Abgeordneten eben mit dem drohenden Horrorszenario quasi dazu zwingen könnte, unzumutbare Detail-Bestimmungen zu akzeptieren.
Eigentlich müsste der Premier jetzt nach Brüssel pilgern, um eine Fristverlängerung zu erwirken – so sieht es ein Gesetz vor, sollte bis Samstagmitternacht kein Ja zu einem Deal zu erzielen sein. Tatsächlich bat Johnson noch vor Mitternacht um eine Verlängerung der Frist. Einem EU-Vertreter zufolge bestätigte EU-Ratspräsident Donald Tusk, dass noch am Samstag ein Brief zur Brexit-Fristverlängerung an die EU abgeschickt wird. Tusk werde dann auf dieser Basis die Beratungen mit den EU-Staats- und Regierungschefs beginnen.
Erste Reaktion auf die jüngste Wende in London: „Es ist an der britischen Regierung, uns so schnell wie möglich über die nächsten Schritte zu informieren“, sagte die Sprecherin von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Drei Briefe aus London
Am späten Samstagabend bestätigte Tusk, den Brief der britischen Regierung erhalten zu haben. Es wurden aber noch zwei weitere Briefe von britischer Seite bestätigt. Nach dem Antrag auf die Verschiebung des Brexit-Termins - den Johnson, wie britische Regierungskreise sagten, nicht unterzeichnet hatte - kam ein zweiter Brief, in dem Johnson betont, dass er einen weiteren Brexit-Aufschub ablehnt. Diesen hat Johnson sehr wohl unterschrieben. Im dritten Schreiben, das vom britischen EU-Botschafter Tim Barrow verfasst wurde, wird klargestellt, dass der erste Brief zur Fristverlängerung nur abgeschickt worden sei, um die Gesetze einzuhalten. Der Antrag auf Verschiebung sei daher von Johnson bewusst nicht unterzeichnet worden.
Vor der Abstimmung im britischen Unterhaus hatte sich Johnson voll ins Zeug gelegt. Er sprach von einem „großartigen Deal“, die Abgeordneten hätten heute die „historische Gelegenheit“, mit einem Ja die „größte einzelne Wiederherstellung nationaler Souveränität in der Geschichte des Parlaments“ zu gewährleisten. Sogar mittels eines Gastbeitrages im britischen Boulevard-Blatt The Sun (Samstag-Ausgabe) versuchte der Regierungschef Stimmung zu machen. Seine Vorgängerin im Amt, Theresa May, die ihren Deal dreimal nicht durchgebracht hatte, konnte er überzeugen. Sie stellte sich auf die Seite Johnsons.
Dieser hatte aber auch unabhängige Mandatare und Brexit-Rebellen aus den eigenen Reihen, mit denen er sich zuvor angelegt hatte, im Visier. Letztere sicherten dem Tory-Chef bereits ihre Unterstützung zu. Doch hatte der Premier auch Abgeordnete aus den Reihen der oppositionellen Labour-Partei als potenzielle Zielgruppe erkannt, speziell jene sozialdemokratischen Repräsentanten aus den alten Industrierevieren. Denn die dortige Bevölkerung hatte mehrheitlich für den Brexit votiert und will diesen Schritt – 1.213 Tage nach dem Referendum im Juni 2016.
Labour-Vorsitzender Jeremy Corbyn hingegen hatte seine Fraktion auf ein Nein eingeschworen. Das jetzige Abkommen sei „sogar noch schlechter“, meinte er. Begründung: Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards würden sinken. Obwohl Johnson dies dementierte, blieb sein härtester Widersacher bei seiner Linie: „Man kann ihm kein Wort glauben.“
Die Liberaldemokraten, die Schottische Nationalpartei, aber auch die nordirische Protestantenpartei, die bisher mit den Tories marschierte, wollen gegen Johnsons Vereinbarung mit der EU stimmen.
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