Auch deshalb platzt aus ihnen die Freude heraus. Überall besprühen einander die Menschen mit Schaum, es kreisen Sektflaschen. Ein paar Waghalsige erklimmen die Laternen, einer klettert auf die Spitze des Obelisken.
Es ist ein Moment, der auch optisch zeigt, dass die Freude über den WM-Titel das Land vereinen kann. Die Luxuskarossen und die Rostlauben, die Armen und die Reichen – sie alle vermischen sich in einer großen Traube stundenlangen Jubels. Ihr Einheitsoutfit: Das weiß-himmelblaue Trikot mit der Nummer 10 und dem Namen Messi hinten drauf.
Das lässt zumindest an diesem Tag soziale Grenzen, Hierarchien oder Klassen verschwinden. „Der Pokal nach der Kampagne der Entmutigung“, kommentiert das linke Blatt Pagina 12.
Das argentinische Volk, sonst so sehr in zwei politische Lager gespalten, versammelt sich in diesen Tagen hinter einem Lagerfeuer: „La Scaloneta“ – wie das Team inzwischen nach Trainer Lionel Scaloni gerufen wird. Eine Journalistin von La Nacion beschreibt diesen zusammenschweißenden Effekt mit einem passenden Vergleich: „Die Nationalmannschaft ist das, was die britische Krone für England ist. Sie vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl und lässt eine Frusttoleranz zu.“
Die Lage im Land ist ansonsten dramatisch: Die Inflation lag zuletzt bei rund 88 Prozent, alles und jeder jagt in Argentinien nach dem US Dollar, denn der Peso in der Tasche verliert praktisch im Wochentakt an Wert.
Demonstrationen auch aus dem eigenen linken Lager machen dem argentinischen Präsidenten Alberto Fernández das Leben schwer. Er verzichtete auf eine Reise nach Katar, wollte offenbar im Falle einer Niederlage unerfreuliche Bilder vermeiden. Er traf die falsche Entscheidung – wieder einmal.
Seine Vizepräsidentin Cristina Kirchner dominiert ohnehin die Berichterstattung und treibt Fernández vor sich her. Sie ist und bleibt der emotionale Gradmesser der Politik. Gerade erst wurde sie zu sechs Jahren Haft wegen Korruption verurteilt. Kirchner wirft Medien und Justiz eine Hexenjagd und mafiöse Methoden vor und sieht sich als Opfer politischer Verfolgung.
Die Opposition um Ex-Präsident Mauricio Macri begrüßt das Urteil. Doch das Verfahren hat den Graben weiter vertieft, die beiden Lager noch unversöhnlicher auseinanderdriften lassen, wozu auch ein gescheiterter Attentatsversuch auf Kirchner vor Monaten beitrug.
Das alles ist seit Sonntagnachmittag vergessen. Vorerst. Wie lange, das wird sich noch zeigen. Hinter den Kulissen hat bereits ein knüppelharter Kampf um die Bilder begonnen. Wer darf sich wann mit der Nationalmannschaft zeigen. Nur der Präsident? Seine Vizepräsidentin – oder auch Horacio Larreta, der konservative Bürgermeister von Buenos Aires? Jeder will in der Nähe von Lionel Messi sein, ein historisches Foto mit Argentiniens „Messias“, wie ihn ein TV-Reporter nannte, kann auf die eigene Popularität abfärben. Wer sich zu sehr anbiedert, kann aber auch Schaden nehmen. So wird auch Lionel Messi eine politische Schlüsselfigur der nächsten Monate.
Für Fernández ist dieser Sieg eine unverhoffte Chance. Die Stimmung im Land dürfte sich trotz der Umstände erst einmal verbessern. Zuletzt gelang es auch, die Inflationsraten zu stabilisieren, der Ausblick auf das Jahr 2023 ist nicht mehr ganz so schlecht, wie noch vor Monaten. Und in der Regel färbt so ein epischer Triumph dann auch auf das Wahlverhalten ab.
Der WM-Triumph hat Fernández eine unverhoffte Chance geschenkt, auf der Welle des Erfolgs das Ruder herumzureißen. Ende nächsten Jahres stehen Präsidentschaftswahlen an. Noch ist nicht klar, ob Fernández noch einmal antritt oder Superminister Sergio Massa (Wirtschaft) für das Regierungslager ins Rennen geht. Die mächtigste Frau im Land, Cristina Kirchner, die immer auf rund 30 Prozent Wähler bauen kann, hat angekündigt, nicht mehr für ein politisches Amt kandidieren zu wollen. Doch in Argentinien ändert sich in zwei Wochen alles, aber in 30 Jahren nichts, wie ein geflügeltes Wort sagt.
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