Es ist ein sperriges Wortgebilde, das die US-Denkwerkstatt Freedom House gerade geschaffen hat. "Hybrides Regime": Diesen Titel haben die Experten für Demokratie in WashingtonUngarn und der Regierung von Viktor Orbán verpasst. Egal, ob es um Freiheit von Medien und Justiz, oder Korruption gehe, eine Demokratie sei dieses System jedenfalls nicht mehr.
Orbáns Gesinnungsgenossin in Ostmitteleuropa, die nationalkonservative PiS-Regierung in Polen, wird zumindest noch als Demokratie bewertet, "gefestigt" sei die allerdings nicht mehr.
Sorge um Demokratie
Man kann solche Demokratie-Zeugnisse skeptisch beurteilen. Doch die politische Entwicklung der ehemals kommunistischen Länder Ostmitteleuropas wird auch von deren eigenen Bürgern sorgenvoll beobachtet. Die Zahlen, die Osteuropa-Experten der Open Society Foundation kürzlich veröffentlichten, sind deutlich. 60 Prozent der Slowaken, 58 Prozent der Ungarn oder 56 Prozent der Bulgaren vereint eine gemeinsame Angst – die um die Demokratie in ihrer Heimat.
Man befürchtet eine Rückkehr zu autoritären Strukturen und kann diese Angst auch ziemlich genau begründen: Der Rechtsstaat brüchig, die Machtverhältnisse aus der Balance, die Korruption überbordend.
Es sind nicht nur diese Zahlen, es ist die Grundstimmung im Osten der EU, die Wissenschafter und Intellektuelle alarmiert. In einer Zwickmühle verortet der französische Philosoph Etienne Balibar die EU und den Einigungsprozess Europas: dazu verurteilt, enger zusammenzurücken, aber unfähig, den eigenen Zerfall aufzuhalten. Der nationale Egoismus habe den europäischen Gedanken unterwandert.
Der Eiserne Vorhang
Ein Jahr nach dem Ende des Weltkriegs sollte Winston Churchill die düstere Vision eines gespaltenen Europa entwickeln: "Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria hat sich ein Eiserner Vorhang über den Kontinent gesenkt ... Polizeistaaten setzen sich fast überall durch. keine echte Demokratie."
Mehr als 40 Jahre später, im Winter 1989, schien diese echte Demokratie auf einmal wieder zum Greifen nahe. Die kommunistischen Regime traten – mit Ausnahme von Rumänien – einigermaßen zivilisiert ab.
"Wollten eine neue Welt"
"Freiheit und Demokratie waren für uns nichts Gewohntes, sondern persönliche Entdeckungen. Wir wollten nicht einfach Teil der bestehenden Welt werden. Wir wollten eine neue erobern. 1989 und 1990 sahen wir uns als Avantgarde", so erinnert sich der aus Bulgarien stammende Politologe Ivan Krastev in einem Gespräch mit der Wochenzeitung Falter an diese Tage des Umbruchs.
Warum aber wurde nichts aus dieser Eroberung einer neuen Welt? Warum wich die Euphorie rasch der Ernüchterung und schließlich der tief sitzenden Frustration, die die Länder Ostmitteleuropas heute nicht loslässt? Krastev genießt inzwischen internationales Renommee für seine Thesen zur neuen Spaltung Europas, zur "Europadämmerung", wie er sie nennt.
Im Gespräch mit dem profil erläutert Krastev diesen Trend. Die revolutionäre Idee sei rasch dem Wunsch nach Normalität gewichen: Jene Normalität, die die westlichen Demokratien mit ihrer Marktwirtschaft verkörperten. Bald schien es nur eine Richtung in die Zukunft zu geben: liberale Demokratie und Marktwirtschaft: "Wir hatten das Gefühl, auf die Zukunft aufzuspringen und zu wissen, wie sie aussehen wird."
Fortschritt, Rückschläge
Jahrzehnte des wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch brutaler Enttäuschungen sollten folgen. Selbst der britische Economist, quasi das Zentralorgan von Liberalismus und Markwirtschaft, zog kürzlich eine sehr zwiespältige Bilanz der Wende in Osteuropa: Es habe ebenso große Rückschläge wie Fortschritte gegeben, und Osteuropa sei bis heute weit konservativer als der Westen: "Andere Orte, andere Werte."
Bürger zweiter Klasse
Die Menschen in den EU-Staaten Osteuropas fühlten sich eben, wie der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer meint, "als Bürger zweiter Klasse."
Die scheinbare Antwort auf diese negative Grundstimmung, auf dieses Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, lieferten Populisten. Die sogenannten Visegrád-Staaten, also Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen, definierten sich unter ihrer Führung neu. Sie verstehen sich in vielen politischen Grundsatzfragen als Gegenpole zum liberalen Westen: Geht es um Migration, Meinungsfreiheit oder Gewaltentrennung, definieren Wortführer wie Orbán oder Polens mächtiger Mann Jaroslaw Kaczynski inzwischen ihre eigene Position – und die ignoriert demonstrativ Grundwerte liberaler Demokratien.
"Waren nur eine Kopie"
Doch für Krastev ist die wirtschaftliche Ernüchterung nur ein Grund für die bedrohlichen politischen Trends von Polen bis Rumänien. Vielmehr seien diese Staaten jetzt erst auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Das vorgegebene Ziel nach 1989 sei gewesen, "den liberalen Westen zu imitieren". Doch auch eine perfekte Kopie sei eben nur eine Kopie – und damit immer von Gefühlen der Minderwertigkeit und Abhängigkeit begleitet, und an diese Gefühle würden die Populisten im Osten appellieren.
Verstärkt wird dieser politische Trend von einer Massenauswanderung junger Menschen aus Ostmitteleuropa Richtung Westen.
In vielen Regionen kommt das einer Entvölkerung nahe. Jene also, die den Westen und seine Marktwirtschaft als Ideal sahen, verlagerten ihr eigenes Leben dorthin. Zurück blieben jene, die diese Chance nicht hatten, oder nicht nützen konnten. Das Gefühl „Europäer zweiter Klasse zu sein“ wurde so nur noch stärker.
Das sei der Unterschied zwischen früheren Umbrüchen und jenem von 1989, erläutert Krastev: "Diesmal haben nicht die Verlierer, sondern die Sieger das Land verlassen."
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