Warum Israel vor einem neuen Lockdown steht
Was ist los in Israel? Im Start-up-Wirtschaftswunder, wo Probleme meist entschlossener gelöst werden als sonst wo auf der Welt. Israels Kampfmaßnahmen gegen das Coronavirus galten im Frühjahr noch weltweit als Vorbild. Jetzt hat Israel eine der höchsten Infektionsraten der Welt. Fast 4.000 allein am Donnerstag. Gerüchte über einen neuen Lockdown machen die Runde.
Die Menschen hier haben sich nicht über Nacht verändert. Doch haben sie verloren, was bislang ihre ohnehin tief zerrissene Gesellschaft über viele Kriege und Gefahren retten konnte: den inneren Zusammenhalt. Nach drei Wahlkämpfen, dirigiert vom eigenen Premier, Benjamin Netanyahu, vor allem mit Hetze und Aufwiegelung, sind sogar noch Reste der alten Solidarität tief angeschlagen.
Wochenlang schaffte es die zerstrittene Koalition nicht einmal, regelmäßige Kabinettssitzungen abzuhalten. Es gibt keinen neuen Haushalt. Hängen davon doch nicht nur Corona-Bekämpfung und Finanzhilfen ab.
Orthodoxer Widerstand
Die Netanyahu sonst so getreuen orthodoxen Parteien wehren sich gegen die Absperrung „roter Wohngegenden“, die als Brandherde des Virus geortet wurden. Auch das Verbot von Pilgerreisen für fromme Juden missfällt ihnen wie die angeordnete Schließung ihrer Schriftgelehrten-Seminare.
Die orthodoxen Parteien fordern den „schwedischen Weg“ im Kampf gegen Corona – wie auch eine Gruppe namhafter Wissenschafter. Wobei die Rabbiner aber etwas übersehen: In Schweden ist die Bewegungsfreiheit größer, dafür aber werden strengere Distanz- und Kontaktauflagen eingefordert und auch durchgesetzt.
Letztere gibt es auch in Israel, sie werden aber nur lax eingehalten. In Synagogen wie in Restaurants; bei Massen-Gebeten an Heiligengräbern wie bei Techno-Partys in abgelegenen Wäldern und riesigen Hochzeiten arabischer Großfamilien.
Jeder Bevölkerungssektor hat seine eigenen Schwachstellen. Die ultra-orthodoxen Rabbiner haben ihre eigenen Schulen, ihre Studenten sind de-facto vom Armeedienst befreit. Warum also nicht auch im Kampf gegen Corona eigene Gesetze? Ali Sallam, Bürgermeister im arabischen Nazareth hat ebenfalls eigene Maßstäbe: „Ich bin Politiker und muss mich auf Hochzeiten von Anhängern zeigen – selbst wenn da über 1.000 Gäste sind.“
Es geht auch anders: Einige Rabbiner folgen den Regeln des Gesundheitsministeriums und schlossen ihre Seminare gegen den Willen „ihrer“ Führung.
Arabische Bürgermeister, deren Städte in der ersten Corona-Welle besonders hart getroffen waren, achten auffallend streng auf die Einhaltung der Regeln in ihren Städten. Ohne dass dies in der Statistik deutlich auffällt. Insgesamt ist die Infektions-Todesrate in Israel mit O,6 Prozent weit niedriger als die hohen Ansteckungszahlen befürchten lassen. Die Krankenhaus-Auslastung ist zwar gestiegen, aber weit vom kritischen Siedepunkt entfernt. Weit wichtiger ist in diesen Tagen eine andere Entscheidung: Muss doch der Generalstaatsanwalt bald über die Amtsfähigkeit des der Korruption und des Betrugs angeklagten Netanyahus entscheiden.
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