Warum Fahrradkuriere seit Tagen in Budapest demonstrieren

Warum Fahrradkuriere seit Tagen in Budapest demonstrieren
Einzelunternehmer müssen in Ungarn bald mehr Steuern zahlen. Das ist angesichts Inflation und steigender Preise besonders bitter. Währenddessen bekommt Orbán eine Gehaltserhöhung.

"Die Regierung soll fallen, das Volk soll siegen", steht auf einem Plakat. "Nie wieder Orbán!", steht auf dem anderen.

Eigentlich geht es um den Fall einer Steuererleichterung. Doch die einen demonstrieren mittlerweile für ihr finanzielles Überleben; die anderen wollen ihrer allgemeinen politischen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen.

In den vergangenen Tagen protestierten tausende Menschen in Budapest gegen eine neue Sparmaßnahme, die die ungarische Regierung unter dem nationalkonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán angekündigt hatte. Worum geht es genau? Freiberufler genießen in Ungarn seit fast 20 Jahren eine begünstigte Pauschalbesteuerung. Einzelunternehmer, deren Gesamteinnahmen unter einer bestimmten Jahresobergrenze bleiben, können sich sämtlicher Steuer- und Sozialversicherungspflichten entledigen, indem sie monatlich 50.000 Forint (umgerechnet etwa 123 Euro) bezahlen. Das sollen derzeit rund 450.000 Steuerzahler nutzen.

Die begünstigte Pauschalbesteuerung, die sogenannte KATA, wurde 2013 von der Fidesz-Regierung selbst eingeführt und genießt laut Umfragen hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung.

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Demonstrationen am Wochenende in Budapest.

Eine Gesetzesänderung engt nun den Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich ein: Ab 1. September dürfen die Regelung nur noch Einzelunternehmer in Anspruch nehmen, die Rechnungen ausschließlich an Privatpersonen ausstellen. Ausgenommen sind davon lediglich Taxifahrer. Drei Viertel der Pauschalbesteuerten könnten damit künftig um diese Möglichkeit gebracht werden, schätzt der Verband der Buchhalter.

Das trifft freie Autoren, Journalisten, Schauspieler und Putzkräfte, vor allem aber Fahrradkuriere hart: Sie leben bereits unter prekären Verhältnissen, und müssen jetzt angesichts Inflation und steigenden Energiepreisen noch mehr bezahlen.

"Ich will mir einfach nur mein Leben leisten können", sagt eine Demonstrantin zur deutschen Zeit. "Mein Mann und ich sind zu zweit, arbeiten brav, rauchen und trinken nicht, und müssen trotzdem am Ende des Monats jeden Forint zusammenkratzen. Das ist doch kein Leben."

Leere Staatskasse

Dass die Steuererleichterung fällt, dürfte auf eine kritische Situation der Staatskasse hinweisen: Eine großzügige Steuerpolitik sowie die staatliche Subvention von Energie- und Lebensmittelpreisen gilt als wichtiger Stimmenfang Orbáns in der ungarischen Bevölkerung. Dass der Ministerpräsident jetzt einen Sparkurs einschlägt, deuten kritische Beobachter als Zeichen einer leeren Staatskasse: Zuerst war da der Wahlkampf, der viel Geld gekostet hat. Schon seit Herbst letzten Jahres gibt es Preisdeckelungen für Lebensmittel, sie sollten Orbán Stimmen sichern und ihm zu seinem Sieg im April verhelfen. Jetzt kämpft Ungarn wie alle anderen europäischen Länder mit einer galoppierenden Inflation und einem Verfall des Forint. Am Mittwoch lag der Wechselkurs seit Langem mal wieder unter 400 Forint, nämlich bei 398,73.

Experten machen außerdem den Streit der Regierung in Budapest mit der EU-Kommission um die Auszahlung der Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU für die wirtschaftlichen Unsicherheiten verantwortlich. Brüssel hat die Milliardenhilfen wegen mangelnder Korruptionsbekämpfung und rechtsstaatlicher Probleme in Ungarn eingefroren.

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Demo auf der Margarethen Brücke - trotz 37 Grad Celsius.

Márki-Zay rief zu Protesten auf

Bei den aktuellen Demos handelt es sich um die erste große Protestaktion nach Orbáns klarem Wahlsieg. Bei einer Kundgebung am Samstag in der Budapester Innenstadt trat auch Péter Márki-Zay auf, der ehemalige Spitzenkandidat der geeinten Opposition. Es war einer der ersten öffentlichen Auftritte Márki-Zays seit April.

In seiner Rede verglich Márki-Zay die Ankündigung der Sparmaßnahmen durch den Premier mit der sogenannten "Lügenrede" des sozialistischen Ex-Premiers Ferenc Gyurcsány im Jahr 2006, auf die schwere Ausschreitungen folgten. Damals hatte Gyurcsány vor seinen Parteigenossen erklärt: "Wir haben gelogen von morgens bis abends".

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Am Samstag rief der ehemalige Oppositonskandidat Péter Márki-Zay zu Protesten auf.

In den kommenden Tagen werden weitere Proteste erwartet. Die regierungsnahen Medien in Ungarn schreiben übrigens kaum darüber. Die Protestierenden hoffen auf einen Erfolg à la 2014: Damals gingen Ungarinnen und Ungarn auf die Straße, um gegen eine Internetsteuer zu demonstrieren. Die wurde dann prompt auch zurückgezogen.

Orbán erhielt Gehaltserhöhung

Besonders bitter bei der ganzen Geschichte: Während die Kleinunternehmer künftig mehr zahlen müssen, hat Orbán im Juni eine Gehaltserhöhung bekommen. Bislang verdiente er so viel wie der Parlamentspräsident László Kövér, nämlich monatlich 1,5 Millionen Forint (umgerechnet 3.765,39 Euro). Jetzt sind es 3,5 Millionen Forint - umgerechnet 8.785,91 Euro. Der Mindestlohn in Ungarn beträgt übrigens 167.400 Forint brutto (circa 418 Euro).

Zum österreichischen Bundeskanzler ist das vergleichsweise immer noch wenig: Karl Nehammer (ÖVP) verdient im Monat 23.440 Euro.

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