Warum die Niederlande auch nach 226 Tagen ohne Regierung sind

Der niederländische Premier Mark Rutte auf dem Weg in sein Büro
Premier Rutte will längstdienender Regierungschef des Landes werden. Doch die Koalitionsgespräche kommen nicht voran. Noch nie war das Land länger ohne Regierung

Sieben Monate nach den Wahlen und noch immer kein Weißer Rauch über dem „Torentje“ – das achteckige „Türmchen“ am Binnenhof in Den Haag ist der Amtssitz des niederländischen Premiers. Dort residiert noch immer Mark Rutte, nach drei regulären Amtszeiten und mittlerweile 226 Tagen als amtierender Regierungschef.

Gewählt wurde schon im März, inmitten der Corona-Pandemie. Doch eine neue Koalitionsregierung ist weiter nicht in Sicht. Dabei haben die Niederlande am Freitag ihren bisherigen Nicht-Regierungsrekord gebrochen. Noch nie war das Land länger ohne eine reguläre Koalition. Vor vier Jahren hatten die Niederlande es immerhin nach 225 Tagen zu einer Vier-Parteien-Regierung geschafft.

Zunächst hatte es für den 54-jährigen Rutte, der stets mit dem Fahrrad in sein Büro radelt, relativ einfach ausgesehen. Mit 22 Prozent der Stimmen hatten er und seine rechtsliberale VVD-Partei die meisten Stimmen gewonnen.

Warum die Niederlande auch nach 226 Tagen ohne Regierung sind

D66-Chefin  Sigrid Kaarg und Premier Rutte würden gerne eine Koalition bilden, aber noch fehlen weitere Partner

Für eine mehrheitsfähige Regierung aber benötigt er mindestens drei Koalitionspartner. Eine schwer zu lösende Aufgabe in einem Land mit extrem zersplitterter Parteienlandschaft: 19 Parteien sind im niederländischen Parlament vertreten. Viele sind untereinander spinnefeind: Bei bestimmten Koalitionsformationen wollten sie überhaupt nicht in Verhandlungen treten. Eine Dreier-Formation stünde schon in den Startlöchern: Ruttes VVD, die linksliberale D66 und die christdemokratischen CDA – doch ein vierter Mitspieler fehlt.

Skandal um Beihilfen

Alle in Frage kommenden Kleinparteien wollen Rutte nicht mehr als Premierminister sehen. Sie tragen ihm den riesigen Skandal um Beihilfen für die Kinderbetreuung nach. Unter seiner Regierungsführung waren jahrelang Zehntausende Eltern zu Unrecht als Betrüger dargestellt worden und mussten in Summe mehrere Millionen Euro bezahlen. Wegen dieses Skandals hatte die Regierung im Jänner zurücktreten müssen. Doch bei den folgenden Wahlen siegte Rutte erneut, als wäre nichts geschehen.

Typisch für „Teflon-Mark“, meinte damals die Rutte-Biografin Sheila Sitalsing. „Er kommt immer davon.“

Und auch dieses Mal weiß Rutte: Ohne ihn und seine VVD ist in den Niederlanden praktisch keine Regierungsbildung möglich. Auf der rechten Seite käme gar keine zustande, weil niemand mit den beiden extrem rechts stehenden Parteien von Geert Wilders und Thierry Breton koalieren will.

Auf der linken Seite würde eine Koalition mindestens sechs Parteien brauchen – zu kompliziert und zu zerbrechlich.

Und so arbeitet Rutte gewohnt ruhig seinem Ziel entgegen, längst dienender Premier der Niederlande zu werden – auch wenn von einer neuen Regierung noch nichts zu sehen ist. Bisheriger Rekordhalter ist der Christdemokrat Ruud Lubbers. Er regierte 12 Jahre lang.

Vorerst wird weiter verhandelt, Neuwahlen will mit Ausnahme einiger Kleinparteien niemand. Doch auch für die Niederlande, die den Corona-Schock wirtschaftlich recht gut überstanden haben, drängt die Zeit: Ohne reguläre Regierung kann kein Budget verabschiedet werden. Auch die Corona-Wiederaufbaumilliarden aus Brüssel können nicht ausgeschüttet werden.

Rekordhalter Belgien

Den weltweiten Rekord bei Koalitionsverhandlungen hält Belgien: 2010/2011 brauchten die Parteien 541 Tage, bis die Regierung stand. Bulgarien, das ebenfalls keinen Weg zu einer Regierung findet, wählt den Weg von Neuwahlen. Mitte November wird dort heuer zum dritten Mal gewählt.

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