Warum Anis Amri nicht abgeschoben werden konnte
Nach dem Anschlag von Berlin suchen die Behörden nach dem 24-jährigen Anis Amri. Er wurde in Deutschland als potenzieller Gefährder geführt, also als Person, der jederzeit terroristische Straftaten zugetraut würden. Amri war bei den deutschen Behörden bereits seit vergangenem März wegen Terrorverdachts am Radar. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet.
- Was wurde Amri vorgeworfen?
Es ging um Informationen, wonach Amri einen Einbruch plane, um sich dabei Mittel für den Kauf automatischer Waffen zu beschaffen – "möglicherweise, um damit später mit noch zu gewinnenden Mittätern einen Anschlag zu begehen", fügte die Staatsanwaltschaft hinzu. Amri sei daraufhin observiert worden, auch seine Kommunikation sei überwacht worden. Allerdings hätten die "umfangreichen Überwachungsmaßnahmen" keine Hinweise zu den Vorwürfen erbracht. Deshalb habe "keine Grundlage für eine weitere Verlängerung der Anordnungen zur Überwachungsmaßnahmen mehr" bestanden, diese seien im September beendet worden. Anfang Dezember 2016 tauchte er unter.
- Warum wurde Amri nicht abgeschoben?
Nachdem Amri in Italien wegen Gewalttaten, Brandstiftung, Körperverletzung und Diebstahl vier Jahre in Haft verbracht hatte, wurde er aus Italien ausgewiesen. Amri konnte sich im Juli 2015 nach Deutschland absetzen und stellte einen Asylantrag – der im Juli 2016 abgelehnt wurde. Er hatte sich als Ägypter ausgegeben - womit Amri nicht durchkam. Es wurden ihm aber Duldungspapiere ausgestellt (mehr dazu unten). In seinem Fall war der Grund das Fehlen gültiger Ausweispapiere. Tunesien habe zunächst bestritten, dass es sich um einen tunesischen Staatsbürger handle. Schließlich stellte das nordafrikanische Land aber doch Ersatzpapiere aus. Diese wurden den deutschen Behörden just am Mittwoch nach dem Anschlag zugestellt – womit Amri nun abgeschoben werden könnte. Der zuständige Innenminister von Nordhrein-Westfalen, Ralf Jäger (SPD), wollte "diesen Umstand nicht weiter kommentieren", er hatte zuvor bereits mehrfach beklagt, wie schwierig es ist, nordafrikanische Straftäter in ihre Heimatländer abzuschieben (mehr dazu unten).
- Was bedeutet die Duldung?
Sucht man in Deutschland um Asyl an und wird abgelehnt, so gibt es unterschiedliche Gründe, warum die Abschiebung danach ausgesetzt wird: Wenn ein Flüchtling keinen Pass besitzt, wenn er aus gesundheitlichen Gründen nicht reisen kann oder wenn die Lage im Heimatland eine Rückkehr nicht zulässt. Die Duldung ist kein richtiger Aufenthaltstitel, aber ein Nachweis, dass man sich nicht illegal in Deutschland aufhält. Mit Stichtag 30. Juni 2016 hielten sich in Deutschland laut einer Anfragebeantwortung im Bundestag 549.209 abgelehnte Asylbewerber auf. Fast drei Viertel davon leben bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland. Knapp die Hälfte der abgelehnten Asylwerber hat ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Ein weiteres Drittel verfügt über ein befristetes Aufenthaltsrecht.
- Wie ist die Situation in Österreich?
In Österreich leben derzeit rund 250 "geduldete" Menschen - deren Zahl ist laut Auskunft des Innenministeriums (BMI) relativ stabil. Der Begriff sei in Österreich aber enger gefasst als in Deutschland. Bei diesen Flüchtlingen kommt weder ein Asylstatus infrage, noch ist die Möglichkeit auf eine subsidiäre Schutzberechtigung oder ein humanitäres Bleiberecht gegeben. Die Duldung werde dann gewährt, wenn Personen "aktiv an ihrer Rückkehr ins Heimatland mitwirken, aber diese aus Gründen, die sie nicht selbst zu vertreten haben, nicht möglich ist“, sagt Karl-Heinz Grundböck vom BMI. Der Status werde immer wieder geprüft und sollte sich an den entscheidenden Variablen etwas ändern, so werde rasch gehandelt. Während diese Menschen aber in der "Duldungsphase" sind, haben sie ebenso wie jene, denen der Asylstatus zuerkannt wurde, Anrecht auf Grundversorgung.
- Warum gestalten sich Rückführungen nach Nordafrika so schwierig?
Deutschland hat zwar Rückübernahmeabkommen mit Marokko und Algerien geschlossen, klagt aber über große Probleme bei der praktischen Umsetzung. Die Innenministerien der Bundesländer warfen im Lichte der Übergriffe von Köln in der vergangenen Silvesternacht laut einem Spiegel-Bericht nordafrikanischen Staaten "unkooperatives Verhalten" bei Abschiebungen vor. Rund 5500 Algerier, Marokkaner und Tunesier seien nach einem internen Papier der Innenbehörden Ende Juli 2015 ausreisepflichtig gewesen. Lediglich 53 konnten im ersten Halbjahr 2015 in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Die Beamten beklagten in dem Papier, dass Rückführungen aufgrund des unkooperativen Verhaltens der Botschaften nur sehr eingeschränkt möglich sind. Das Verhalten der tunesischen Behörden wurde demnach von den Beamten als "völlig unzureichend" bewertet: "Schon die Kontaktaufnahme mit der Botschaft ist äußerst schwierig. Bis auf wenige Einzelfälle gibt es keine Reaktion und keine Ergebnisse."
- Wie sieht es in Österreich aus?
Das Innenministerium spricht bei der Praxis von Rückführungen in nordafrikanische Länder auf kurier.at-Anfrage von "Herausforderungen". Vereinzelt sei es möglich, das zu organisieren. "Alles steht und fällt mit der Ausstellung von Einreisezertifikaten, die Ausreise ist von unserer Seite leicht organisiert", sagt Grundböck. Die Botschaften mancher Staaten würden hier aber "nicht so routiniert arbeiten". Man befinde sich in Gesprächen, und hoffe von österreichischer Seite, "dass es zu einem routinemäßigerem Vorgehen kommt". An Rückführungsabkommen werde derzeit nicht gearbeitet, diese bedürfen eines Verhandlungsmandats der EU, ohne dieses darf kein Mitgliedsland bilaterale Abkommen schließen. Aber selbst ein solches Abkommen könne nur eine allgemeine politische Willensbekundung sein, sagt Grundböck. Es bedürfe dann immer noch in jedem einzelnen Fall um ein entsprechendes Einreisezertifikat.
- Tunesien gilt in Deutschland (noch) nicht als sicherer Herkunftsstaat
Deutschland will Rückführungen forcieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel wünscht sich mehr Vereinbarungen, wie es sie zwischen der EU und der Türkei gibt - so etwa mit Ägypten, Libyen und auch Tunesien. Mitte Mai gab der Bundestag mit Stimmen der Unionsparteien und der SPD grünes Licht für die Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten. Doch das entsprechende Gesetz hat noch immer nicht den Bundesrat passiert. Die Grünen lehnen das Vorhaben nach wie vor ab. Es gibt starke Bedenken, weil aus allen drei Maghreb-Ländern Menschenrechtsverletzungen gegen bestimmte Gruppen bekannt sind - etwa gegen Homosexuelle.
Ein sicheres Herkunftsland zeichnet sich dadurch aus, dass Asylanträge aus diesen Staaten grundsätzlich abgelehnt werden, sofern keine besonderen Umstände vorliegen. Wenn ein Asylwerber aus einem sicheren Herkunftsland kommt, ist seine Chance auf Asyl verschwindend gering. In Österreich werden Tunesien, Marokko und Algerien seit Februar 2016 durch Ministerratsbeschluss als sicheres Herkunftsland geführt.
- Geringe Chancen auf Bleiberecht
Asylbewerber aus Nordafrika haben geringe Chancen auf ein Bleiberecht in Deutschland. Innenminister Thomas de Maiziere sagte im Mai, zu 99 Prozent kämen die Menschen aus Tunesien, Marokko und Algerien nicht wegen einer persönlichen Verfolgung nach Deutschland, was die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl sei. Im Jahr 2015 haben laut einer Anfragebeantwortung im Bundestag nur zwei Personen aus den Maghreb-Staaten in Deutschland Asyl erhalten. Neben den zwei Algeriern bekamen weitere 31 Personen aus den drei Ländern Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zugesprochen. Acht Personen wurde der sogenannte niederrangige subsidiäre Schutz gewährt. Dieser wird zugestanden, wenn zwar keine individuelle Verfolgung vorliegt, den Menschen in ihren Herkunftsländern aber erhebliche Menschenrechtsverletzungen drohen oder Bürgerkrieg herrscht. Bei 14 Personen wurde ein Abschiebungsverbot erteilt.
- Deutschland plant Verschärfung
Auf die Zuerkennung oder Nicht-Zuerkennung der Duldung im Fall Amris hätte die Einstufung von Tunesien als sicheres Herkunftsland keinen Einfluss gehabt, weil die Nationalitätszugehörigkeit Amris zunächst nicht geklärt werden konnte. Nach dem Willen der Deutschen Bundesregierung sollen nordafrikanische Länder ihre abgelehnten Asylbewerber auch ohne Original-Reisedokument zurücknehmen. Mit den Westbalkanländern Serbien, Kosovo und Albanien ist 2015 vereinbart worden, Staatsbürger auf der Grundlage eines vereinfachten Papieres zurückzunehmen. Dieses Verfahren werde nun auch mit nordafrikanischen Ländern angestrebt. Im Februar sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), Deutschland spreche mit Tunesien über kurzfristige Lösungen - jenseits von Rücknahmeabkommen mit der EU, deren Aushandlung noch immer andauere.
Es ist ein Frage, die sich nicht nur die Journalisten stellen: Warum wurde der Ausweis des dringend Tatverdächtigen Anis Amri erst so spät gefunden? Eine Rekapitulation.
Montag: Ein Lkw – mutmaßlich von Anis Amri entführt und gelenkt – rast über einen Weihnachtsmarkt und kommt nach 80 Metern zum Stehen. Zwölf Tote, mehrere Schwerverletzte fordert die Fahrt, die nach etwa 80 Metern endet. Der Lenker flüchtet, wird kurz verfolgt und verschwindet dann in der Nacht. Er hinterlässt einen Ausweis – ob aus Absicht oder nicht, weiß im Moment nur der Täter.
Fotos zeigen, die Fahrt zerstört das Führerhaus, Teile der Marktbuden und Dekoration hängen in der Windschutzscheibe. Auf dem Beifahrersitz eine blutüberströmte Leiche. Es ist der polnische Lkw-Lenker, mit einem Kopfschuß getötet.
Wenige Stunden später meldet die Polizei einen ersten Erfolg, der mutmaßliche Täter sei gefasst. Einen Tag später muss sie zugeben, dem Verdächtigen kann man nichts nachweisen. Er wird freigelassen.
Dienstag: Der Lkw wird von der Polizei in eine Halle gebracht. Dort werden zunächst Hunde in die Fahrerkabine geschickt, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Um den Geruch des Verdächtigen aufzunehmen, heißt es. Um eben diesen Geruch nicht zu zerstören wurde die Kabine bis dahin nicht gründlich durchsucht. Erst dann sollen die Ermittler die Brieftasche gefunden haben.
Mittwoch: Die Ermittler arbeiten mit Hochdruck, beantragen eine öffentliche Fahndung. Bis diese genehmigt ist, dauert es Stunden. Erst gegen Abend ist es offiziell: Anis Amri ist europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. 100.000 Euro Belohnung winken. Der Fahndungsaufruf gibt es in mehreren Sprachen. Unter anderem in Deutsch, Englisch, Französisch und Farsi. Fotos des Verdächtigen werden verteilt.
Donnerstag: Es wird bekannt, dass die Ermittler nun auch Fingerabdrücke des gesuchten Amri an der Fahrertür und auch am Lenkrad des Lkw gefunden haben. Die Indizien verhärten sich, dass die Beamten nun dem tatsächlichen Täter auf der Spur sind.
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