Nur gut 800.000 der 12 Mio. Tunesier folgten dem Ruf an die Urnen, das entspricht nicht einmal neun Prozent der Stimmberechtigten.
Saied, der trotz seines Coups von einer Mehrheit der Tunesier noch im Sommer als Hoffnungsträger gesehen wurde, „kann nicht mehr mobilisieren“, fasst Isabelle Werenfels das für den Präsidenten desaströse Ergebnis des Urnengangs zusammen.
Leere Regale
Einen der Gründe sieht die Nordafrika-Expertin von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik in der Art, wie die Wahlen aufgezogen worden seien. Politische Parteien, die Saied als Grundproblem des Landes verteufelt, waren nicht zugelassen.
Den verbleibenden Kandidaten fehlte es an Finanzierung; es gab kaum Wahlkampf und keine Frauenquote mehr. Zudem befolgten viele Menschen die Boykott-Aufrufe der Opposition.
Bedeutender für das Desinteresse an den Wahlen sind laut Werenfels aber die alltäglichen Probleme der Tunesier: hohe Arbeitslosigkeit, massive Inflation und eine seit Monaten anhaltende Knappheit von Grundnahrungsmitteln wie Brot, Öl, Milch oder Zucker.
Angesichts fehlender Perspektiven zieht es seit Jahren junge Menschen, zuletzt auch zunehmend ganze Familien, nach Europa – sei es über das Mittelmeer oder die Balkanroute. In Österreich stammten von Jänner bis Oktober 2022 13 Prozent aller Asylansuchen von Tunesiern. Die Zahl sank allerdings nach Einführung einer serbischen Visumpflicht für Tunesier.
Bevölkerung, Armee, Opposition
Ob Tunesien nun zur Demokratie zurückfindet oder weiter in die Autokratie abdriftet, ist aus heutiger Sicht schwer abzuschätzen. Laut Werenfels ist nicht nur ausschlaggebend, wie groß die Ablehnung von Saied durch die Bevölkerung tatsächlich ist, sondern auch, wie viel Rückhalt er noch in Armee und Polizei hat.
Ebenso spiele es eine Rolle, ob die gespaltene Opposition fähig sei, sich zusammen zu raufen und nach einem eventuellen Rücktritt des Präsidenten die Rückkehr zu einem demokratischen Prozess einzuleiten.
Geld und Reformen
Langfristig brauche Tunesien neben Wirtschaftsreformen auch ein inklusiveres politisches System, so Werenfels – und vor allem Perspektiven für die Menschen.
Um die größten finanziellen Probleme des Landes abzufedern, verhandelt Tunesien seit fast eineinhalb Jahren mit dem Internationalen Währungsfonds über einen Milliardenkredit, dessen Gewährung allerdings unpopuläre soziale Einschnitte erfordern und die Unzufriedenheit weiter steigern dürfte.
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