Tunesien: Von der Demokratie in die Diktatur
Eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen Land und Stadt; dazu Korruption, hohe Lebenskosten und fehlende Perspektiven: Tunesien hatte gravierende Problemen, als Langzeit-Diktator Ben Ali 2011 nach Massenprotesten aus dem Amt gejagt wurde.
Elf Jahre und einen zunächst erfolgreichen Demokratisierungsprozess später steckt das Land nach wie vor in der Krise – und die Antwort darauf ist für viele ein neuer autoritärer Herrscher.
Mehrheit erwartet
Er heißt Kais Saied, ist 64 Jahre alt und regiert das Land im Alleingang, seit er Parlament und Regierung vorigen Juli suspendierte.
Am Montag, dem ersten Jahrestag der Machtergreifung, ließ Saied die Tunesier über eine neue, von ihm geschriebene Verfassung abstimmen. Es wurde eine Mehrheit für Saieds Entwurf erwartet - vor allem angesichts der Tatsache, dass für die Gültigkeit des Referendums keine Mindestbeteiligung vorgeschrieben wurde und einige Parteien zum Boykott aufgerufen hatten.
In Tunesien begann 2011 der Arabische Frühling, in dem autoritäre Regierungen in mehreren Ländern gestürzt wurden. In Tunesien etablierte sich anders als etwa in Ägypten oder Libyen die Demokratie; Armut und Korruption blieben allerdings bestehen.
Der derzeitige Staatschef Kais Saied wurde im Oktober 2019 gewählt. Der Verfassungsrechtler und politische Quereinsteiger galt vielen als Hoffnungsträger.
Am 25.Juli 2021 suspendierte Saied nach regierungskritischen Protesten, bei denen er zum Eingreifen aufgerufen wurde, Parlament und Regierung. Er berief sich dabei auf einen Notstandsartikel der Verfassung. Nun soll eine neue Verfassung seine Macht absichern.
Das neue Referendum soll das Grundgesetz von 2014 ablösen, das in einem zweijährigen demokratischen Prozess entstand und das liberalste im arabischen Raum ist.
Gesetzgebung, Justiz, Moral
Gemäß Saieds Entwurf liegt die gesamte Exekutive in Tunesien künftig in den Händen des Staatschefs – die Regierung wäre ihm ebenso unterstellt wie das Verfassungsgericht. Eine politische Kontrolle durch das Parlament ist nicht vorgesehen; wie die Volksvertretung gewählt werden soll, ist dabei unklar.
Auch die Religion fällt laut Saieds Plänen künftig in seine Zuständigkeit: Der Staat müsse die „Ziele des Islam gewährleisten“, heißt es im Verfassungsentwurf – was bei vielen Frauen und liberalen Tunesiern die Alarmglocken schrillen lässt. Zudem soll die „öffentliche Moral“ über persönliche Rechte und Freiheiten gestellt werden, was für unverheiratete Paare oder Homosexuelle zur Gefahr werden könnte.
„Letztlich kann der Staatschef in Zukunft tun, was er will“, fasste Sadok Belaid die Lage vor dem Referendum gegenüber der FAZ zusammen. Der emeritierte Jus-Dekan hätte als Vorsitzender einer vom Präsidenten eingesetzten Kommission eigentlich die neue Verfassung erstellen sollte. Seine am 20. Juni vorgelegte Version sagte Saied allerdings nicht zu, weshalb er binnen zehn Tagen selbst eine zimmerte.
Brot statt Demokratie
So kritisch wie Belaid sind allerdings nicht alle Tunesier. Präsident Saied hat nach wie vor bedeutende Teile der Bevölkerung hinter sich, besonders in ländlichen Regionen. Sie sorgen sich angesichts explodierender Getreidepreise mehr um das tägliche Brot für ihre Kinder als um die Demokratie.
Wie Saied machen sie korrupte Politiker, Richter und in Machtkämpfe verstrickte Parteien für alle Probleme des Landes verantwortlich und hoffen, dass der Staatschef mit den Eliten aufräumt.
Insbesondere die seit 2011 in allen Regierungen vertretene, moderat-islamistische Ennahda-Partei ist vielen ein Dorn im Auge.
Auf nach Europa
Zwar gibt es in der Bevölkerung durchaus Proteste gegen eine Verfassungsreform, jedoch fallen die Demonstrationen deutlich kleiner aus als jene der vergangenen Jahre. Statt Zehntausenden Menschen versammelten sich im Zentrum von Tunis zuletzt nur mehr einige hundert.
Die Tunesier seien des politischen Chaos' überdrüssig, sagen Beobachter. Immer mehr junge, gut ausgebildete Menschen sehen ihre Zukunft statt im Heimatland in Europa. In den vergangenen zwei Jahren versuchten so viele Tunesier wie zuletzt 2011 das Mittelmeer zu überqueren.
Boykott - ja oder nein?
Auf seinem Weg zur Alleinherrschaft spielt dem Präsidenten letztendlich auch die zersplitterte Opposition in die Hände. Die Parteien konnten sich nicht darauf verständigen, die Tunesier geeint zum Boykott des Referendums aufzurufen, obwohl eine niedrige Beteiligung Saieds Plänen Legitimation kosten könnte.
Selbst der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT, der für seine Rolle bei der Demokratisierung 2015 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, stellte seinen Mitgliedern die Entscheidung frei.
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