Taiwan hat einen Status erlangt, den man als quasi staatlich bezeichnen kann. Ein militärischer Angriff - hier im Bild chinesisches Militär - wäre eine Verletzung des Gewaltverbotes
Russlands Krieg, Chinas Drohungen gegen Taiwan, Trumps Begehrlichkeiten gegenüber Grönland. Warum hat das internationale Völkerrecht so wenig Handhabe, Gewalt zu verhindern?
Der Gedanke war immer schon kühn: Allgemeine Regeln sollten alle Staaten der Welt an eine gemeinsame Ordnung binden, an das internationale Völkerrecht. Eines der obersten Gebote: Gewaltverzicht. Doch das Völkerrecht kann Staaten kaum schützen. Völkerrechts-Experte Augst Reinisch erklärt, warum.
KURIER: Kann sich Donald Trump auf irgendein Recht berufen, Grönland für die USA zu beanspruchen?
August Reinisch: Ich sehe keines. Manchmal gibt es historische Bezüge, wonach ein Teil eines Landes aus irgendeinem Grunde ungerechtfertigt abgetreten wurde. Aber im Fall Grönlands können sich die USA auf nichts dergleichen beziehen. Es geht offenbar um sicherheitspolitische Interessen, um Ressourcen. Viele Staaten haben Interessen, aber das kann kein Grund dafür sein zu fordern: Wir wollen uns dieses Gebiet “einverleiben”.
Mit dem gleichen Recht könnte ja auch Österreich sagen, wir wollen Grönland haben.
Ja, genau. Man sieht ja, es wird in keiner Weise auf historische oder andere Gründe Bezug genommen.
Wenn Trump, wie er es einmal angedeutet hat, militärisch vorgehen und sich Grönland einverleiben würde, wäre das ein Bruch des Völkerrechts?
Eindeutig, ja, natürlich.
Kann man sich einen Staat auch ohne Gewalt einverleiben?
Ein Staat kann sich freiwillig in einen anderen eingliedern, aber dafür finden sich in den vergangenen 100 Jahren kaum Beispiele. Eines davon war die sogenannte deutsche Wiedervereinigung. Das war nicht der Zusammenschluss zweier Staaten zu einem neuen Staat – sondern in Wahrheit der Beitritt der fünf neuen Länder, wie sie auch bezeichnet werden, zur bestehenden BRD.
Aber wenn es um eine Gebietserweiterung mit Waffengewalt und gegen den Willen der Menschen und des Gebietes geht, dann ist es eine illegale Annexion.
Um auf Grönland zurückzukommen: Theoretisch könnte sich ein unabhängiges Grönland, sofern ein Unabhängigkeitsreferendum abgehalten wird, aus freien Stücken an die USA anschließen. Das wäre rechtlich möglich. Aber wie ich aus den Nachrichten aus Grönland vernehme, besteht dafür kein großer Appetit.
Es gibt ja auch sowas wie wirtschaftliche Knebelverträge. Sind solche Verträge denn völkerrechtlich zulässig?
Wenn Grönland von Dänemark unabhängig würde, wären die USA in einer wesentlich schlechteren Position als momentan. Die NATO-Mitglieder Dänemark und USA haben sich darauf geeinigt, dass die USA die Möglichkeit hat, auf Grönland mehrere Militärstützpunkte zu errichten.
Sollte Grönland unabhängig werden, wäre es nicht mehr NATO-Mitglied. Dann wäre auch die Rechtsgrundlage für die Truppenstationierungen automatisch hinfällig. Das ist eine der wenigen klaren Konsequenzen eines sonst nicht ganz unumstrittenen Bereichs des Völkerrechts, nämlich des Rechts der Staatennachfolge. Man müsste die Stationierung amerikanischer Truppen neu verhandeln. Ein souveräner Staat ist dazu nicht gezwungen.
Natürlich wissen wir alle: Es gibt wirtschaftlichen Druck, es gibt ein extremes Machtungleichgewicht, also Machtverhältnisse, die die beiden keineswegs auf Augenhöhe einander entgegensehen lassen. Aber trotzdem müsste man alles neu verhandeln. Daher ist es auch aus dieser Perspektive keine sehr rationale Überlegung, zu sagen: Wir wollen Grönland unabhängig machen; und dann werden sie sich uns ohnedies freiwillig anschließen.
Klare Brüche des Völkerrechts waren die russische Annexion der Krim und jene der Oblaste in der Ostukraine. Warum kann das Völkerrecht souveräne Staaten nicht besser schützen?
Weil wir keine Instrumente dafür haben. Nur in Ansätzen haben wir ein Schutzinstrumentarium in Form der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats. Aber der Sicherheitsrat hat einen “Geburtsfehler”, er baut darauf auf, dass die fünf ständigen Mitglieder kooperieren. Und wenn diese nicht kooperieren, und das ist ihnen durch ein Veto-Recht eingeräumt - dann funktioniert das System nicht.
Also das System müsste so funktionieren: Wenn ein Staat unrechtmäßig Gewalt gegenüber einem anderen anwendet, wäre das ein klarer Fall der Verletzung von Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen. Der Sicherheitsrat ist dann befugt, nicht verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, inklusive militärische. Und das fußt auf dem Grundkonsens, nämlich dass kein ständiges Mitglied ein Veto einsetzt. Das bedeutet, wann immer die USA oder die Russischen Föderation (früher die UdSSR) oder ein anderes ständiges Mitglied Gewalt anwenden, funktionieren die Vereinten Nationen nicht.
Aber wenn wir die Vereinten Nationen nicht als Durchsetzungsinstrument haben, bleibt nur die Rechtsdurchsetzung der Staatengemeinschaft insgesamt.
Und was ist dabei möglich?
Diese müssen dann in irgendeiner Form reagieren, und weil man nicht unbedingt mit einer Atommacht Krieg führen möchte, reagieren sie mit anderen Formen: Das sind etwa Wirtschaftssanktionen, die die USA und nicht nur die EU tragen, aber viele Länder eben auch nicht. Russlands Quasi-Verbündete Iran und China, aber auch zahlreiche andere Staaten der Dritten Welt wollen sich hier in keiner Weise einmischen.
Das heißt, Durchsetzung ist kaum vorhanden, wenn es um einen zentralen Bestandteil unserer gegenwärtigen Völkerrechtsordnung geht, nämlich dem Verbot, Gewalt anzuwenden.
Das müssen wir akzeptieren, das ist aber in Wahrheit nichts Neues. Das ist seit 1945 leider so angelegt.
Dann fragt man sich doch, wenn das Völkerrecht in dieser Situation so hilflos ist, ob es dann nicht obsolet ist?
Nein, es gibt zahlreiche Bereiche, wo es sehr effizient funktioniert. Das amerikanische Verfassungsrecht ist ja auch nicht völlig obsolet, nur weil Präsident Trump sich an einige Bestimmungen nicht hält. Das muss jedes Rechtssystem aushalten, dass es das immer wieder gibt.
Ist diese schwache Wirksamkeit des Völkerrechts nicht geradezu eine Einladung an China, sich Taiwan zu holen?
China sagt immer in öffentlichen Aussagen zu Taiwan, das ist ein abtrünniger Teil Chinas und früher oder später wird er wieder eingegliedert, aber Peking hält sich relativ zurück mit Drohungen. Die üblichen Militärübungen gehören da dazu.
Insofern ist die Situation zwischen der Volksrepublik China und Taiwan, Republik China, doch etwas anderes als etwa die Annexionsdrohung gegenüber Grönland beziehungsweise die versuchte Annexion von Teilen der Ukraine, weil es sich bei Letzteren jeweils um souveräne, selbstständige Staaten handelt.
Völkerrechts- und Europarechtsexperte August Reinisch unterrichtet an der Universität Wien
Taiwan in seinem Selbstverständnis aber sagt, wir sind China. Genauso wie die Volksrepublik China sagt, wir sind China. Das ist eine sehr ungewöhnliche Situation. Wir haben es, wenn man so will, mit zwei verschiedenen rivalisierenden Regierungen seit nunmehr mehr als einem halben Jahrhundert zu tun, die jeweils nicht voneinander behaupten, sie seien ein anderer Staat, sondern die jeweils behaupten, sie seien die legitime Regierung, die den Staat China repräsentiert.
Wenn China sich Taiwan mit Gewalt holt, wäre das ebenso ein Völkerrechtsbruch? Wenn es sich eben nicht um zwei souveräne Staaten handelt?
Das allein darf natürlich keine Rechtfertigung sein, sondern in Wahrheit hat Taiwan, einen Status erlangt, den man als quasi staatlich bezeichnen würde. Und daher wäre auch hier ein militärischer Angriff eine Verletzung des Gewaltverbotes. Das Gewalt-Verbot schützt nicht nur souveräne Staaten. Es kann nicht nur von souveränen Staaten verletzt werden, sondern auch von nicht staatlichen Akteuren.
Aber eine mögliche Warnung an die Führung in Peking kann das Völkerrecht so nicht sein?
Also politisch ganz klar, je weniger man sich an Grundregeln hält, umso mehr lädt das alle möglichen Akteure ein, sich dann auch nicht mehr daran zu halten, noch dazu in einem System, das primär darauf basiert, dass Staaten aus politischer Einsicht davon ausgehen, Reziprozität sei eine Grundregel. Je mehr wir uns an das Völkerrecht halten, umso mehr können wir erwarten, dass sich andere auch daran halten.
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