Versenkte ein U-Boot die "Estonia"?

Versenkte ein U-Boot die "Estonia"?
Loch im Rumpf der Unglücks-Fähre entdeckt; Estlands Premier fordert von Schweden Aufklärung, 26 Jahre nach der Tragödie mit 852 Todesopfern immer noch Unklarheit.

Verursachte ein schwedisches U-Boot die größte Katastrophe der zivilen Schifffahrt in Europa seit 1945? Ein Dokumentarfilm zum 26. Jahrestag des Untergangs der Fähre „Estonia“ am Montag lässt eben das vermuten und schlug hohe Wellen in Schweden und Estland. Estlands Regierungschef Jüri Rattas reiste umgehend nach Stockholm, um von Premier Stefan Löfven Aufklärung zu verlangen. Rattas forderte bei dem Sondertreffen am Dienstag eine weitere Untersuchung des Wracks auf 85 Metern Tiefe, um den Hergang des Unglücks festzustellen.

Im Zuge der Filmarbeiten im Auftrag des Kanals Discovery hatte ein Tauchreporter ein vier Meter großes Loch in der Schiffswand der am Meeresgrund liegenden „Estonia“ entdeckt. Nach Ansicht eines norwegischen Marine-Experten muss das Leck vom Rammstoß eines U-Bootes stammen. Bislang galt die instabile Bugklappe als offizielle Unfallursache.

852 Menschenleben forderte das Schiffsunglück am 28. September 1994. Bis heute konnten 758 Leichen nicht  geborgen werden

4 Meter hoch und 1,2 Meter breit ist das durch einen Tauchroboter neu entdeckte Loch im Schiffswrack

137 Menschen überlebten die Tragödie. Insgesamt waren 989 Menschen an Bord, die meisten von ihnen sind im eiskalten Wasser der Ostsee ums Leben gekommen

 

Die Fähre von Tallin nach Stockholm sank in einer stürmischen Nacht am 28. September 1994 innerhalb nur einer halben Stunde. 989 Menschen waren an Bord, nur 137 Personen überlebten in dem kalten Wasser. 852 Menschen kamen ums Leben.

Der 1997 publizierte Untersuchungsbericht von Schweden, Estland und Finnland erklärte die zu schwach befestigte Bugklappe, welche wegbrach und Wasser ins Schiff ließ, zum Hauptgrund der Katastrophe. Somit wurde die Werft im niedersächsischen Papenburg als Schuldige ausgemacht, die 1980 das 157 Meter lange Schiff baute. Eine entsprechende Millionen-Klage der Hinterbliebenen wurde allerdings 2019 von einem französischen Gericht und einer französischen Prüfstelle abgewiesen.

Enorme Wucht

Der nun veröffentlichte Dokumentarfilm ging den offenen Fragen nach. Nach Aussage von Jørgen Amdahl, Professor für Marinetechnologie im norwegischen Trondheim, sei ein Objekt mit einer Kraft von 500 bis 600 Tonnen von außen in die Schiffsseite gestoßen, die einen Riss von vier Metern Höhe sowie über einen Meter Breite verursachte. Ein Militärexperte schloss eine Explosion aus – da kein Schiff kurz vor dem Sinken der Fähre gesehen wurde, bleibt laut Amdahl ein U-Boot als einzige Erklärung.

Die Schifffahrt musste nach dem Zweiten Weltkrieg bereits öfter Opfer aufgrund militärischer Geräte hinnehmen: 1947 sank der griechische Küstendampfer „Heimara“ auf der Fahrt von Thessaloniki nach Piräus aufgrund eines Seeminentreffers. 378 der 604 Menschen an Bord starben. Die Herkunft der mutmaßlich aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Mine war nicht geklärt, es war jedoch einer der opferreichsten Schiffsverluste in Friedenszeiten in griechischen Gewässern. Ein Jahr später lief das aus Kopenhagen kommende dänische Passagierschiff „Kjøbenhavn  auf eine vermutlich aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Treibmine und sank binnen zehn Minuten. Von den an Bord befindlichen Passagieren und Besatzungsmitgliedern konnten 260 bis 310 gerettet werden, 48 bis 150 Menschen fanden den Tod.

Im Jahr 2010 sank die südkoreanische Korvette „Cheonan“ nach einer starken Explosion, wobei 46 Seeleute den Tod fanden. 58 Besatzungsmitglieder konnten gerettet werden. Untersuchungen ergaben später, dass das Schiff höchstwahrscheinlich durch einen nordkoreanischen U-Boot-Torpedo versenkt wurde, was durch aufgefundene Bruchstücke und Sprengstoffreste nachgewiesen werden konnte. Bislang bestreitet Nordkorea, irgendetwas mit dem Untergang der „Cehonan“ zu tun zu haben.

Einer der Überlebenden, der heutige estnische Generalkonsul in St. Petersburg Carl Eric Reintamm, erinnert sich an ein Krachen, auch habe er ein Objekt unter Wasser gesehen. Der estnische Schiffsbauingenieur Märten Vaikma verweist hingegen auf die Möglichkeit, dass ein großer Stein auf dem abschüssigen Meeresgrund beim Sinken das Loch verursacht haben könnte. Die U-Boot-Theorie würde jedoch besser erklären, warum das große Schiff so schnell gesunken war. Es ist ein Rätsel, das Wissenschafter und Hinterbliebene umtreibt.

Totenruhe nicht stören

Mit der Doku kommt ein alter Konflikt wieder auf. Schweden, das die meisten Opfer zu beklagen hat, wurde von Wissenschaftern wie Hinterbliebenen vorgeworfen, bislang wenig an einer Aufklärung interessiert zu sein. Obwohl sich das Wrack in internationalen Gewässern befindet, wurde schwedischen Staatsbürgern verboten, sich dem Wrack zu nähern – offiziell, um die Totenruhe nicht zu stören.

Dafür hat Magnus Kurm, Ex-Generalstaatsanwalt in Estland und Leiter der Untersuchungskommission 2004 bis 2009, kein Verständnis. Der Jurist misstraut Schweden und wirft den Behörden des skandinavischen Landes vor, sie hätten von der Öffnung in der Schiffswand von Anfang gewusst. „Schweden log uns direkt ins Gesicht“ behauptet Kurm. Er glaubt auch, dass das U-Boot schwedischer Herkunft gewesen sei, da es ein schwedisches Marine-Manöver in der Nähe gegeben habe.

Anders Björk, zum Zeitpunkt der Katastrophe schwedischer Verteidigungsminister, weist diese Theorie zurück – nur mit einer „groß angelegten Vertuschungsoperation“ hätte man so einen Unfall geheim halten können. Von schwedischer Seite gibt es bislang kein Signal, eine Untersuchung unter Wasser zu veranlassen. In den Nuller-Jahren haben schwedische Behörden aber Zugeständnisse gemacht: In den 90er-Jahren habe es Waffentransporte aus der ehemaligen Sowjetrepublik Estland nach Schweden mittels ziviler Fahrzeuge gegeben. Das bestätigte auch der damalige Außenminister Estlands.

Kommentare